Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Vipperow: Konzeptionsgruppe will Oppositionsarbeit verbessern

6. Oktober 1984

Frieden Konkret

Die "Vipperower Konzeptionsgruppe"

Christoph Wunnicke

 

Am 6. Oktober 1984 trafen sich, bei Markus Meckel in Vipperow neun Oppositionelle. Sie verstanden sich selbst als Ad-hoc-Gruppe des bis dahin noch provisorischen Fortsetzungsausschusses „Frieden konkret“ und als Ergebnis des Beschlusses des „Kessiner Friedensseminares 1984“ die zukünftige Friedensarbeit konzeptioneller anzulegen. Hans-Jochen Tschiche und Edelbert Richter fehlten entschuldigt. Das Entstehen dieser vom MfS "Vipperower Konzeptionsgruppe" genannten Zusammenschlusses erklärt Heiko Lietz mit mangelnden Fortschritten nach dem 3. „Kessiner Friedensseminar“.[1] Neubert hingegen meint, dass diese Gruppe im Zusammenhang mit Überlegungen zur Vorbereitung zu „Frieden konkret III“ entstanden und konspirativ vorbereitet wurde, um das MfS auszuschließen. Beides trifft zu.

Gerd Poppe und Heiko Lietz benannten als Ziel der Anwesenden: Die Planung und Durchführung einer „Revolution“ in der DDR.[2] Lietz führte aus, dass es die langfristige Aufgabenstellung sei, mit Partisanenarbeit in den Staat sowie seine Parteien und Massenorganisationen einzudringen, die Strukturen zu zerschlagen sowie neue Strukturen aufzubauen. Gerd Poppe schlug in Vipperow außerdem vor, analog zu den tschechischen Verhältnissen, das Samisdat-System auszubauen und anstatt einer festen zentralistischen Organisation eine informelle Vernetzung der Gruppen zu realisieren.[3] Im Anschluss diskutierten die Teilnehmer Fragen wie: Worin die persönliche Herausforderung für sie innerhalb dieser Zielstellung bestünde, welche Möglichkeiten sie hätten eine gesellschaftliche Gegenkraft zu entwickeln, wer die Träger dieser Gegenkraft wären und wie sie vorgehen müssten? Die derzeit existierenden Friedenskreise und Basisgruppen sollten exemplarisch zu praktischen Verantwortungsgemeinschaften umstrukturiert werden. Diese müssten außerdem kurzfristig in die Öffentlichkeit treten um ihre Vorstellungen von einer „Neuen Gesellschaft“ wirksam popularisieren zu können. Dazu müsste der DDR Bevölkerung aufgezeigt werden, daß die „Mächtigen der DDR“ sachlich inkompetent seien und  ausschließlich mit Mitteln des Staatsterrorismus regieren würden. Diese Aktivitäten seien umso nötiger, da es in der DDR an genügend leidensbereiten Menschen mangele und ein System der Angst regiere. Die anzustrebende Gesellschaftsstruktur sollte sich von der bundesdeutschen unterscheiden. Auf den Treffen der „Vipperower Konzeptionsgruppe“ wurde der Begriff Opposition selbstbezüglich verwandt.[4] Ein seltenes Vorkommnis innerhalb der Basisgruppenszene.

Am 7. Oktober verfasste die Gruppe einen Brief an die „Friedensdemonstration am 20. Oktober 1984 in Bonn“[5] begleitet von der Bitte, den Brief dort öffentlich zu verlesen

„Liebe Freundinnen und Freunde!

Ihr versammelt Euch heute in Bonn, um die Zeichen der Friedensbewegung nicht zurückzunehmen, sondern sie auch nach dem Stationierungen neu zu setzen. Wir wünschen, daß Euch das gelingt und daß diese aufrichtende Haltung ausstrahlt. Denn resignative Haltungen sind auch für uns spürbar gewesen. Es fällt schwerer, eindeutige Stellungnahmen zu geben und zu erhalten. Die Synode des Kirchenbundes in Greifswald hat das wieder gezeigt. Aber die Zeit der Ruhe könnte sich als eine Denkpause erweisen, in der Grundlinien für die zukünftige Arbeit sich abzeichnen, auch für unser gemeinsames Anliegen.

Unsere Arbeit ergänzt sich ja, wir tun sie am eigenen Ort für die/ den Andere(n) mit und für die Zukunft des gemeinsamen Lebens. In dieser Situation brauchen wir gegenseitige Ermutigung, und wir sollten alles tun, um diese uns wirklich zuzusprechen. Nach wie vor wird versucht, solche Kontakte und faktische Gemeinsamkeiten zu ignorieren, zu unterbinden oder Zu vereinnahmen. Vor nicht langer Zeit gab es fast nur ein Nebeneinander der Bewegungen. Das hat sich inzwischen geändert. Wir denken mit Freude an Begegnungen, wo wir im Miteinandersprechen –angesichts der aktuellen Bedrohung - eine große Nähe in den Fragestellungen und Zielen, ja sogar in der Sprache entdeckten. Offensichtlich geht auch in unseren Erfahrungen die beiderseits geschwungene ideologische Krücke zu Bruch, deren Name ist: Handlanger des je anderen Machtblocks.

Wir leben hier in der DDR. Wir wollen hier leben und mit dem Frieden auch hier anfangen  ohne Raketen. Aber die Begegnungen mit Euch sollten ausgebaut werden. Das heißt auch, daß wir die Unterschiede unserer Aktions- und Handlungsmöglichkeiten sehen und im blockübergreifenden Dialog anerkennen sollten. Wir brauchen uns nicht zu überschätzen oder einem Mythos nachhängen, aber auch nicht Angst voreinander machen lassen. Wir sollten uns als Partner ernst nehmen und verstärkt zu Sachdiskussionen kommen.

Wir wünschen Euch und uns, daß dieser fruchtbare Dialog der Bedrohten ansteckt!“[6]

Die nächste Zusammenkunft der Konzeptionsgruppe sollte am 4. Dezember 1984 im Hauptgebäude des Bundes Evangelischer Kirchen in der Berliner Auguststraße stattfinden.

Dem ersten Treffen dieser Konzeptionsgruppe und dem in Aussicht stehenden „Frieden konkret III“ widmete sich ein Treffen von Mitarbeitern des MfS der Bezirksverwaltungen Neubrandenburg, Rostock und Schwerin sowie den Mitarbeitern der Hauptabteilung XX/4 Oberstleutnant Rossberg und Hauptmann Sittner am 28. November 1984 in Berlin. Sie diente dem Ziel, keine Zentralisierung der Aktivitäten von Basisgruppen zuzulassen, die Versuche ihrer Koordinierung zu stören und die „operative Kontrolle“ auch beim Verlassen des rechtlich zugesicherten Handlungsraums durch Gruppenmitglieder zu behalten. Als Hauptinitiator der „Vipperower Konzeptionsgruppe“ sah das MfS Heiko Lietz, der in Vorbereitung auf „Frieden konkret“ eine Lageeinschätzung über die Wirksamkeit der Friedenskreise erarbeiten wollte. Das MfS beschloss daraufhin, die Kontrolle der nächsten Zusammenkunft der Konzeptionsgruppe in Berlin.[7]

Das dritte Treffen der „Vipperower Konzeptionsgruppe“ fand am 4. Mai 1985 bei Katja Havemann in Grünheide statt. Nach Debatten über eine einheitliche Organisationsform der Basisgruppen kamen die Anwesenden zu dem Ergebnis, daß eine zentral ausgerichtete Organisationsform der DDR-Friedensbewegung aus politischen und rechtlichen Gründen nicht zu verwirklichen sei. Unter politischen Gründen versteht Martin Gutzeit hier die prinzipielle Abneigung gegen verbindliche Organisationsformen jeglicher Art. In der Monopolisierung von Kompetenzen in zentralen Instanzen sah die Überzahl der Basisgruppen vielmehr das Grundübel der herrschenden gesellschaftlichen Zustände.[8] Nach dem Treffen in Grünheide wurde die Tätigkeit der Konzeptionsgruppe zugunsten anderer Strukturen, wie beispielsweise dem Fortsetzungsausschuß von „Frieden konkret“ aufgegeben. Gutzeit und Meckel bilanzierten später: „Wir hofften, daß es zu einer stärkeren, verbindlicheren und mehr konzeptionellen Kooperation kommen könnte. Die Treffen verliefen jedoch im Sande, da die Unterschiede zu groß waren und wir deshalb nicht zu einem engeren Zusammenschluß als dem im Rahmen der lockeren Vernetzung von ‚Frieden konkret‘ kamen. Dabei waren wir uns über die Notwendigkeit grundlegender innenpolitischer und systemverändernder Konsequenzen im klaren und einig. Über unsere Möglichkeiten, Wege und Zielstellungen waren wir es nicht.[9]

 

[1] Vgl. Lietz, S. 205.

[2] Vgl. MfS-Bericht über die Besprechung in Vipperow, 15.10.1984, in: Kuhrt, S. 292.

[3] Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 518.

[4] Vgl. Poppe, Gerd, S. 370, Anm. 39.

[5] https://books.google.de/books?...

[6] Brief an die Organisatoren der Friedensdemonstration am 20. Oktober 1984 in Bonn, mit der Bitte, den Brief zu verlesen, in: Meckel, Markus/Gutzeit, Martin: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit. Kommentierte Quellentexte, S. 161f.

[7] Vgl. Aktenvermerk zur Beratung am 28.11.1984 in der Hauptabteilung XX/4, 3.12.1984; Privatarchiv Meckel.

[8] Vgl. Gutzeit, Martin: Der Weg in die Opposition. Über das Selbstverständnis und die Rolle der Opposition im Herbst 1989 in der ehemaligen DDR, in: Euchner, Walter (Hg.): Politische Opposition in Deutschland und im internationalen Vergleich, Göttingen 1993, S. 89f.

[9] Meckel, Markus/Gutzeit, Martin: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit. Kommentierte

Quellentexte, S. 40.