Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Torgelow: Prager Frühling bereitet Militärs ideologische Probleme

1. August 1968

Prager Fühling

Der Physiker Gabriel Berger[1] schreibt: „Unter den etwa 350 Soldaten der Raketentransportbatterie im Mecklenburgischen Torgelow gab es neben mir noch drei Hochschulabsolventen. Der Politoffizier, ein Oberstleutnant und Absolvent der ‚Knüppelakademie‘, rief uns zu sich in das Stabsgebäude zu einer kleinen Aussprache, der später weitere folgen sollten. Angesicht der sich verschärfenden Krise in der Tschechoslowakei, erläuterte er den Zweck der Zusammenkunft, wolle er uns zur Mitarbeit bei der ideologischen Beeinflussung der Soldaten motivieren. Er gehe davon aus, dass wir als Hochschulabsolventen bei den Soldaten einen besonderen Respekt genießen. Er ermahnte uns insbesondere, streng darauf zu achten, dass in der Kaserne nicht die Hetzsendungen von Radio Prag gehört würden. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, forderte er jeden von uns zu einer Stellungnahme auf. Als ich an der Reihe war, fragte ich den Oberstleutnant: ‚Aus welchem Grund dürfen wir nicht Radio Prag hören? Es ist doch schließlich der Sender eines sozialistischen Bruderstaates.‘ Und bevor er noch seinen zur unwilligen Grimasse verzogenen Mund öffnen konnte, beeilte ich mich hinzuzufügen: ‚Neben Radio Prag höre ich übrigens regelmäßig auch Sendungen von Radio Moskau, Radio Tirana und Radio Peking, auch Albanien und China sind doch sozialistische Staaten. Ich muss sich schließlich allseitig informieren.‘  Zur Erläuterung: China und Albanien befanden sich damals wegen ihres offiziellen Festhaltens am Stalinismus auf einem Konfrontationskurs zur Sowjetunion, deren kommunistische Partei sich unter Chruschtschow von der Diktatur Stalins distanziert hatte. Bei so viel dümmlicher Primitivität oder Unverschämtheit blieb dem Politoffizier das Wort im Munde stecken. Dem mit mir zur Sitzung erschienen marxistischen Diplomphilosophen in Soldatenuniform ,Gernot, einem meiner besten Freunde, wurde es Angst und Bange. Er trat mich unter dem Tisch ans Schienbein, um mich zum Schweigen zu bringen. Doch ich plauderte munter weiter, bis der aufgebrachte Oberstleutnant brüllte ‚es ist den Soldaten verboten Radio Prag zu hören, merken Sie sich das!‘ Gernot bemühte sich, die Lage zu entschärfen. ‚Natürlich verstoßen wir nicht gegen das Verbot‘, sagte er. Er diente in derselben Kompanie wie ich, also verteidigte er damit auch sich. Schließlich stand seine Karriere als marxistischer Philosoph auf dem Spiel. Doch im Gegensatz zu ihm sah ich keinen Grund, klein beizugeben. ‚Wo steht es denn geschrieben dass wir nicht Radio Prag hören dürfen?‘, fragte ich. ‚Es ist uns doch nicht verboten, Sendungen aus anderen sozialistischen Staaten zu hören.‘ ‚Aber ich verbiete es‘, brüllte der Politoffizier, ‚es ist ein Befehl!‘ ‚Ja, wenn es ein Befehl ist‘, sagte ich kleinlaut, ‚dann werde ich mich danach richten.‘ Nach dieser Sitzung unternahm der Politoffizier keine weiteren Versuche, die Akademiker zur politischen Zusammenarbeit in Sachen Tschechoslowakei zu bewegen. Mit meinem Vater stand ich damals noch im Briefkontakt. Meinen über zehnseitigen euphorischen Lobgesang auf Dubcek beantwortete er mit einem Grabgebet auf den verlorenen Sohn: ‚Ich hatte einen Sohn‘, schrieb er, ‚doch ich habe keinen Sohn mehr, er hat sich dem imperialistischen Lager verschrieben.‘ Dieses pathetische Stoßgebet des enttäuschten Marxisten löste zwischen uns eine Sendepause aus, die sich wenige Jahre später zu einer totalen Sendestille ausweiten sollte.“[2]

[1] http://widerstandsmuseum.de/ve...

[2] Gabriel Berger: Ich protestiere, also bin ich. Erinnerungen eines Unangepassten, Berlin 2008, S. 134f. http://www.zeit.de/1989/11/ich...