11. Juni 1982
DAS KESSINER FRIEDENSSEMINAR
Christoph Wunnicke
Am 26. Juli 1980 wurde auf Anregung von Heiko Lietz in Güstrow der später erst so genannte Kessiner Friedenskreis gegründet. Da Heiko Lietz kurze Zeit später aus dem kirchlichen Dienst ausschied, der Friedenskreis aber weiterhin des kirchlichen Daches bedurfte, zog die Gruppe nach Kessin bei Rostock, wo das Gründungsmitglied Dieter Nath als Pfarrer wirkte. Nahezu von Beginn an war der Güstrower Dom-Küster und MfS-IM „Heinz“, Günther Engel, Mitglied des Friedenskreises und der Vorbereitungsgruppe des „Kessiner Friedensseminares“.
Auf der ersten Sitzung der AGF berichtete Heiko Lietz den Anwesenden über ein für 1982 geplantes Friedensseminar in Kessin, welches nach dem Königswalder Vorbild arbeiten sollte. Rechtsanwalt und MfS-IM Wolfgang Schnur war eingeladen über Rechtsfragen zu referieren und ein noch nicht benannter Schriftsteller sollte über das Treffen der Schriftsteller im Dezember 1981 in Ost-Berlin[1] berichten. Die Einladung zu dem Seminar verursachte umgehend Probleme, da sie in der Zeit der „Schwerter zu Pflugscharen“-Bewegung zielgerichtet an Jugendliche über siebzehn Jahren versandt worden war.
Das erste „Kessiner Friedensseminar“ fand vom 11. bis 13. Juni 1982 statt. Neben mecklenburgischen Vertretern besuchten auch Mitglieder von Friedenskreisen aus Sachsen, Berlin und Thüringen,[2] von denen einige den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trugen, das Seminar. Der Rat des Bezirkes Rostock meldete an Staatssekretär Gysi 50 bis 100 Personen, vorwiegend im Alter bis 25 Jahre, die am Seminar teilnahmen. Im Jahr 1983 folgten 120 Teilnehmer der Einladung während es 1984 noch 90 überwiegend jugendliche Personen aus elf Basisgruppen der DDR waren.
Das „Kessiner Friedensseminar“ diente vor allem dem Austausch. An die Vorstellungsrunden der Basisgruppen schloß sich die Arbeit zu verschiedenen Themen in Arbeitsgruppen an. Deren Ergebnisse wurden im anschließenden Plenum manchmal ausgewertet, manchmal nicht. Gruppenvertreter warben für ihre Anliegen wie Hans-Jochen Tschiche für „Frieden konkret“ und einen Informationsdienst zur Friedensarbeit. In diesem Zusammenhang erklärten Markus Meckel und Gerd Poppe 1984 das Schreiben von Eingaben gegen die Raketenstationierung für nicht ausreichend und baten um Empfehlungen der Teilnehmer für konkretere Aktionen. Dieser Unmut führte später zur Einberufung der Vipperower Konzeptionsgruppe.
Daneben verfolgten die Veranstalter mit Einladungen an Staatsvertreter eine legalistische Strategie in dem sie Vertreter des Staates oder von Massenorganisationen einluden. Im November 1982 zählte Heiko Lietz die Christliche Friedenskonferenz, die Schriftsteller und die kirchlichen Friedenkräfte zu den wirkungsvollsten Säulen der Friedensbewegung.[3] Diese drei Strömungen wollte er zukünftig im „Kessiner Friedensseminar“ zusammenführen. Problematisch wurde die Einladung eines FDJ-Funktionärs zum zweiten Seminar. Im Oktober 1982 suchte Dieter Nath in der FDJ-Bezirksleitung Rostock den 2. Sekretär Klaus Uerkvitz auf. Diesem teilte er mit, daß seine Kirchengemeinde am 13. Mai 1983 ein Seminar unter dem Thema des FDJ-Oktoberklubliedes „Sag mir wo Du stehst und welchen Weg Du gehst" veranstalten würde. Zentrales Anliegen solle es sein, verschiedene Wege zur Erhaltung des Friedens vor und mit Jugendlichen zu diskutieren.[4] Die FDJ kam nicht.
Als Resultat des Fernbleibens von Vertretern des Friedensrates und der FDJ, richtete der Kessiner Friedenkreis noch im Mai 1983 Eingaben an den Präsidenten des Friedensrats und den FDJ-Vorsitzenden Egon Krenz. Der Mitarbeiter des Rates des Bezirkes Rostock, Jürgen Haß, sprach daraufhin mit Nath über das Friedensseminar in Kessin.[5] Er wertete es als nicht genehmigte Veranstaltung, zu der Vertreter gesellschaftlicher Organisationen und Einrichtungen eingeladen wurden, um sie mit „verleumderischen Reden“ zu konfrontieren. Zweitens betrachtete er die im Brief formulierten Friedensbekundungen als demagogisch. In direkter Übernahme der Charakterisierung des Kessiner Seminars durch die schottische Zeitung „Scotsman“ stellte Haß fest, daß die inoffizielle Friedensbewegung einen gewagten Schritt unternehme, der einen Test für die Bereitschaft der SED darstellen würde, freien Protest zu erlauben.[6] Haß eröffnete Nath zum Ende des „Gespräches“ die Möglichkeit einer Unterredung mit einem Vertreter des Zentralrates der FDJ. Grundsätzlich erklärte Haß aber, daß die FDJ sich, wie auf einem Podium in Kessin, grundsätzlich nicht als „Feigenblatt“ dafür hergebe, daß die Friedenspolitik der DDR öffentlich hinterfragt würde.[7]
Haß unterrichtete Bischof Rathke über die im Jahr 1983 mit Nath geführten Gespräche und wies dabei auf die staatlichen Bedenken hinsichtlich des Friedensseminares hin. OKR Müller vertrat gegenüber staatlichen Stellen die Ansicht, daß Probleme dann aufträten, wenn „Andere“ in das Seminar eingebunden würden.[8] Im Ergebnis dieser Kontroversen schrieb der Oberkirchenrat an Nath einen Brief, in dem er formulierte, daß es bei den Einladungen wünschenswert wäre, daß der kirchliche Bezug deutlicher benannt würde. Außerdem sollte auch der Eindruck vermieden werden, daß es dem Seminar nur um ein Gespräch mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen gehe.[9]
Ende des Jahres 1983 schlug MfS-IM Günther Engel dem MfS Strategien vor, wie die für die Existenz des Kessiner Friedenskreises wichtigen Personen Heiko Lietz, Christoph Kleemann und Dieter Nath gegeneinander ausgespielt werden könnten. Daneben initiierte er im Friedenskreis überflüssige Selbstverständnisdiskussionen, welche provokanter Friedenskreisarbeit Zeit und Energie raubten.[10] Anfang des Jahres 1984, mit Beginn einer Ausreise- und Botschaftsbesetzungswelle, erreichten Dieter Nath und die Mitglieder des Kessiner Gemeindekirchenrates anonyme Briefe derselben Machart, in denen der jeweilige Adressat gleichlautend gefragt wurde: „Wievielen Antragstellern auf Übersiedlung muß unsere Kirche dieses Jahr in der Zeit vom 1. bis 3. Juni wieder Schutz bieten und wie viele neue Antragsteller wird es danach geben? Wir sind besorgt um die Reinhaltung der Kirche!"[11]
Auch der Staatsekretär für Kirchenfragen war offensichtlich derart beunruhigt, daß er seinen Stellvertreter Kalb nach Rostock entsandte, damit dieser gemeinsam mit dem Stellvertreter des Ratsvorsitzenden für Inneres des RdB Rostock noch einmal ein Gespräch, ausschließlich über das Seminar, mit Bischof Rathke führte.[12] Rathke beteuerte darin, daß ihm an einer Veranstaltung mit kirchlichem Charakter gelegen sei. Abschließend sagte Rathke zu, mit den Organisatoren noch einmal zu reden, um einen „politischen Missbrauch“ des Seminares zu verhindern. Ebenso verhielt sich OKR Siegert bei einem Gespräch mit Staatsvertretern am 25. Mai. Er bekräftigte die Feststellung, daß die Kirche sich auch der Nichtchristen annehme. Im übrigen stünde der Gemeindekirchenrat Kessin hinter diesem Seminar und damit sei dem Bischof und der Kirchenleitung wegen der kirchlichen Grundordnung die Möglichkeit genommen, andere wirkmächtige Entscheidungen zu treffen.
Der Leiter der Arbeitsgruppe für Kirchenfragen des ZK der SED, Rudi Bellmann, teilte dem zuständigen Politbüromitglied Werner Jarowinsky am 25. Mai 1984 mit, daß Rathke die Organisatoren des Friedensseminares schriftlich beauflagt hätte, „daß theologische Probleme im Vordergrund stehen und Angriffe auf die Staatspolitik unterbunden werden sollen. Die Inspiratoren des 'Seminars' sollen sich über diese schriftliche Anweisung des Bischofs enttäuscht geäußert haben. [...] Der Stellvertreter des Ratsvorsitzenden für Inneres des RdB Rostock, Genosse Haß, wurde durch mich noch einmal auf die Notwendigkeit hingewiesen, aus dem Kreis der Eingeladenen staatsbürgerlich loyale Christen auszusuchen und zu veranlassen, daß mit ihnen Gespräche geführt werden, in denen sie für ein politisch vernünftiges Auftreten während der Veranstaltung motiviert und aktiviert werden."[13]
Wahrscheinlich durch diese Weiterungen angeregt, versandte Rathke am 28. Mai 1984 eine Information an die Leitungen der Gliedkirchen im Bund der Ev. Kirchen in der DDR, in der die ELLKM die Verantwortung für das Seminar übernahm und über den konkreten Ablauf informierte.[14]
Der Kessiner Friedenskreis wurde wegen Fehlens Dieter Naths am 10. Juli 1984 vorläufig für tot erklärt. Trotzdem wurde von den übrigen Seminarteilnehmern beschlossen, das „Kessiner Friedensseminar“ spätestens 1986 weiterzuführen. IM „Heinz“ berichtete über die Sitzung des Kessiner Friedenskreises vom 20. Mai 1985, daß wenn Nath das Kessiner Friedensseminar nicht mehr bei sich durchführen läßt, Lietz drei Alternativen vorgeschlagen hätte. Erstens die Durchführung durch die ESG Rostock gemeinsam mit der Schalomgemeinschaft, falls Markus Meckel Studentenpfarrer in Rostock würde. Zweitens die Durchführung durch die Schalomgemeinschaft auf dem Rostocker Michaelshof mit der Unterstützung von Pfarrer Udo Struck oder drittens die Durchführung durch den Güstrower Friedenskreis. Da Nath wieder fehlte beschlossen im Rahmen einer Zusammenkunft von Aktivisten der Güstrower, Schweriner und Wismarer Friedenskreise sowie der Rostocker Schalomgemeinschaft am 7. September 1985 die Anwesenden unabhängig von Nath ein Thema für ein „Kessiner Seminar 1986“ zu finden und darüber die Pastoren Nath und Struck zu informieren.[15] Die Hoffnung lebte noch. Tatsächlich gab es keine Fortsetzung der Kessiner Seminare auch wenn Heiko Lietz dies verschiedenentlich versuchte und in manch neu gegründeter Veranstaltung ein Neuaufleben Kessins in anderer Form sah.
Insgesamt kann das Kessiner Friedensseminar trotzdem als erfolgreiche Ausgründung des Königswalder Seminares verstanden werden. Im Aufbau mit Arbeitsgruppen und Plenumsrunden diesem ähnlich setzte es vor allem durch seinen Veranstalter Dieter Nath auf extensive legalistische Dialogangebote an den Staat, scheiterte aber vor allem an intensiven Zersetzungsmaßnahmen des MfS. Sein Scheitern regte jedoch sowohl die später beschriebene Bildung des Fortsetzungsausschusses von „Frieden konkret“ wie auch die kurze Zeit existierende Vipperover Konzeptionsgruppe an.
[1] Der Schriftsteller Stephan Hermlin lud zum 13. Dezember 1981 Literaten und Wissenschaftler aus Ost- und West-Deutschland nach Ost-Berlin wo sie über Fragen der Friedenssicherung diskutierten.
[2] Vgl. Lietz, S. 200.
[3] Vgl. Überarbeiteter ausführlicher Bericht zum Kessiner FK vom 22.11.1982; BV Schwerin IMB „Heinz“ Reg. Nr. V 532/77 AIM 0192/91, Privatarchiv Lietz.
[4] Vgl. „Information über ein Gespräch mit Pfarrer Nath am 05.10.1982 gegen 09.30 Uhr“; Landeshauptarchiv Mecklenburg Vorpommern, Ast. Greifswald, Rep. IV E 2.14 Nr. 614, Blatt 46.
[5] Nath erinnert sich in seinem Gedächtnisprotokoll des Gespräches: „Der Staat läßt sich von uns nicht dadurch beleidigen, daß wir eine sogenannte Diskrepanz zwischen der Außen- und Innenpolitik unseres Staates im Blick auf die Friedenspolitik aufragten. Ich, als Verantwortlicher des Seminars, hätte strikt unterbinden müssen, daß keine Fragen hätten zugelassen werden dürfen, die die Friedenspolitik unseres Staates in Zweifel gezogen hätten. (z.B. beim Podiumsgespräch). Daß ein inzwischen ausgewiesener Staatsfeind das Wort hätte nehmen dürfen, wäre ja schon bezeichnend gewesen. [...]Die Ermutigung zur Wehrdienstverweigerung in der Gruppenarbeit sei eine einzige Provokation. Als Schlußpunkt der 4 Seiten umfassenden Vorlesung (Herr Haß verlas mir nämlich mehr oder weniger seine Anklagen [...]) zitierte er aus einer Zeitung in England: Das Kessiner Seminar habe zu einer Demonstration junger Menschen durch Mecklenburg aufgerufen, um das Verhältnis Staat-Kirche zu testen. Nach einer mir endlich eingeräumten Gelegenheit, habe ich die gegen den Inhalt und die Absicht unseres Seminars erhobenen Unterstellungen und auch die gegen meine eigene Person erhobenen Vorwürfe widersprochen. Darauf verwies Herr Haß auf Äußerungen von mir, die ich auf einer Synodaltagung im Zusammenhang des Wehrunterrichts ausgesprochen hatte.“ „Information über ein Gespräch beim Bezirk Rostock“, von D. Nath an den Oberkirchenrat, ohne Datum; Archiv des Oberkirchenrates der MECKLENBURGISCHEN LANDESKIRCHE, Schwerin, 512.02.AGF.
[6] Haß führte aus: „1. Sie erlauben sich, zu einer nicht genehmigten Veranstaltung Vertreter gesellschaftlicher Organisationen und Einrichtungen einzuladen und sie mit verleumderischen Reden gegen den Staat zu konfrontieren. 2. Die in ihrem Brief formulierten Friedensbekundungen betrachten wir als demagogisch und unverfroren. [...]"Die inoffizielle Friedensbewegung unternimmt einen gewagten Schritt, der einen Test für die Stärke der Unterstützung in der Bevölkerung und für die Bereitschaft der Sozialistischen Einheitspartei darstellen wird, freien Protest zu erlauben, eine Konfrontation deutet sich an“. Konzeption zur Gesprächsführung mit Pastor Dieter Nath, Kessin, am 27.6.1983.“; Landeshauptarchiv Mecklenburg Vorpommern, Ast. Greifswald Rep. 200 II 7.3 Nr. 60, Blatt 115.
[7] Vgl. „Information über ein Gespräch beim Bezirk Rostock“, von Dieter Nath an den Oberkirchenrat, ohne Datum; Archiv des Oberkirchenrates der MECKLENBURGISCHEN LANDESKIRCHE, Schwerin, 512.02.AGF.
[8] Vgl. „Information über das am 13.4.1984 ...“, 19. April 1984; Landeshauptarchiv Mecklenburg Vorpommern, Ast. Greifswald Rep. IV E 2.14 Nr. 614, Blatt 148-149. Vergleiche auch: Besier, Höhenflug und Absturz, S. 555.
[9]Der Oberkirchenrat wünschte, „daß der kirchliche und biblische Bezug deutlicher wird, auch durch den Hinweis auf entsprechende Veranstaltungen, die sicher vorgesehen sind. [...] Deshalb sollten wir auch den Eindruck vermeiden, als ob es nur um das Gespräch mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen gehe. Es liegt ja ohnehin nicht in unserer Hand, wieweit solche Gruppen auf ein solches Gespräch eingehen.“ Brief Bischof Rathke an Dieter Nath, Archiv des Oberkirchenrates der MECKLENBURGISCHEN LANDESKIRCHE, Schwerin, 512.02.AGF.
[10] Vgl. Frank, S. 393f.
[11] Anonymer Brief, ohne Datum, Privatarchiv Nath.
[12] Eingangs stellten sie fest, daß die Vorbereitung des Seminares „nicht nach den von Landesbischof Rathke abgegeben Zusagen in der Vorbereitungsphase verläuft. Gegenwärtig zeichnet sich ab, daß diese Veranstaltung einen destruktiven politischen Charakter tragen soll. [...] Genosse Haß erinnerte hierbei an die vom Landesbischof und Oberkirchenratspräsident Müller gegeben Zusagen während des letzten Gesprächs." „Information“ des RDB Rostock; Landeshauptarchiv Mecklenburg Vorpommern, Ast. Greifswald Rep. IV E2.14 Nr. 614 Blatt, 152.
[13] „Vermerk über weitere Maßnahmen zur Verhinderung des politischen Mißbrauchs des ‚Kessiner Friedensseminares’ (1.-3.6.1984)“, 25.5.1984; Bundesarchiv Berlin, Bestand Staatssekretär für Kirchenfragen DO 4, 20, unpaginiert.
[14] Vgl. „Information über Friedensseminar in Kessin...“, 28.5.1984; Archiv des Oberkirchenrates der MECKLENBURGISCHEN LANDESKIRCHE, Schwerin, 512.02.AGF.
[15] Vgl. BV Schwerin, Abt. XX: „Überarbeiteter schriftlicher Bericht des IMB ‚Heinz’ vom 11.7.1985“, 11.7.1985; Privatarchiv Lietz.