Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Greifswald: Monika Zimmermann über den Abriß der Greifswalder Altstadt

16. August 1989

Westmedien Domeinweihung Greifswald Altstadtsanierungen

Monika Zimmermann schrieb am 16. August 1989 unter dem Titel „In Greifswald wird die Zerstörung nachgeholt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ): „Dort, wo einst das älteste Wohnhaus von Greifswald stand, klafft nun eine Lücke. Vor einigen Jahren schon wurde das Gebäude aus dem späten 13. Jahrhundert abgerissen — wegen Baufälligkeit. Was und wann an dieser exponierten Stelle, unmittelbar neben dem Marktplatz, neu gebaut werden soll, weiß noch niemand. Vorerst wird auf der Freifläche wohl eine Imbißbude aufgestellt oder ein Parkplatz eingerichtet werden. In Greifswald ist man mit dem Abbruch derzeit flinker bei der Hand als mit dem Wiederaufbau. ‚Der Kran wandert ein wenig zu schnell durch die Stadt‘, sagt auch Hans-Georg Wenghöfer, der Stadtarchitekt von Greifswald. Der Kran, ein Ungetüm, das die berühmte Kirchturm-Silhouette von Greifswald um einen Turm erweitert hat, hat bereits den gesamten Norden der Altstadt durchkreuzt und steht nun im Nordwesten. Dieser Kran ist untrügliches Zeichen für drohende Veränderungen. Mit seiner Hilfe werden die Schuttberge der einstürzenden Altbauten abgetragen und die schweren großformatigen Betonplatten bewegt, die in der DDR Inbegriff des Neubaus sind. Das zweitälteste Wohngebäude von Greifswald wurde bislang nicht abgebrochen. Doch das einstmals stolze Giebelhaus ist heruntergekommen. Die Fassade scheint allein durch jenes Schild zusammengehalten zu werden, auf dem die Rekonstruktion dieses Baudenkmals für die Zeit ‚nach 1990‘ in Aussicht gestellt wird. Im Gegensatz zum Haus wirkt die Tafel noch ganz frisch. Sie wurde gerade aus Anlaß der festlichen Wiedereinweihung des Domes dort angebracht, hauptsächlich, weil Erich Honecker dieses kirchliche Ereignis durch seine Anwesenheit zur Staatsaktion machte. Auf seinem kurzen Spaziergang vom Rathaus zum Dom kam der hohe Gast an diesem verfallenen Haus vorbei. Hätte er einen anderen Weg gewählt, hätte er unvermeidlich andere traurige Ecken gesehen. … Und wenn es im anderen Deutschland um die Verteilung der begrenzten Mittel und Baukapazitäten geht, dann werden sowohl die ‚Hauptstadt‘ als auch die Bezirkshauptstadt mindestens in dem Maße besser bedacht, wie Greifswald von diesen Orten entfernt liegt. Was beispielsweise in Rostock an modellhafter Stadtsanierung möglich war, darf im kleinen Greifswald noch nicht einmal gedacht werden. Insofern sind der Phantasie eines Stadtplaners enge Grenzen gesetzt. Selbst die alles entscheidende Frage, ob man das Alte erhalten oder durch Neubauten ersetzen will, beantwortet sich beinahe von selbst durch die Realitäten, die in Greifswald keine anderen sind als in Halberstadt, Bautzen, Weimar, Pirna, Potsdam oder überall sonst in der DDR, wo vernachlässigte Altstädte einzustürzen drohen und bereits eingestürzt sind. Vierzig Jahre lang hat man der überkommenen Bausubstanz in den Altstädten keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern den dringlichsten Bedarf an Wohnungen auf die billige, schnelle Weise auf der grünen Wiese zu decken versucht, damit bis 1990, gemäß dem sozialistischen Auftrag, ‚die Wohnungsfrage als soziales Problem‘ gelöst werden kann. In Greifswald heißen diese Neubauviertel Schönwalde I und Schönwalde II. Andernorts heißen sie anders, sehen aber kaum anders aus. … Die DDR ist mit viel Energie dabei, jenes Kapital an unzerstörter Bausubstanz, das sich drüben, anders als in der Bundesrepublik, allein deshalb erhalten hat, weil vierzig Jahre lang beinahe nichts in diesen Städten geschah, nun doch noch zu verspielen. Rudolf Petershagen habe Greifswald nicht gerettet, damit es nun verfalle, diesen Vorwurf hat Luise Petershagen, die Witwe, vor einigen Jahren in einer Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden formuliert und sich bitter über den katastrophalen Zustand ihrer Heimatstadt beklagt. Oberst Rudolf Petershagen, dessen ‚mutiger Entschluß‘ in jedem Greifswald-Führer gewürdigt wird, hatte als damaliger Stadtkommandant Greifswald am 30. April 1945 kampflos an die Rote Armee übergeben, um die Stadt vor sinnloser Zerstörung zu bewahren. So blieb die Stadt weitgehend unzerstört, verfiel dann aber durch die Vernachlässigung zusehends. Vor etwa zehn Jahren begann dann der Kran damit, dieses Werk der Zerstörung zu vollenden.“[1]

[1] Zimmermann, Monika: In Greifswald wird die Zerstörung nachgeholt. Nach vierzig Jahren verfällt die Hanse- und Universitätsstadt, 16.8.1989, Frankfurter Allgemeine Zeitung.