Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Vipperow: DIE MOBILEN FRIEDENSSEMINARE IM OSTEN MECKLENBURGS Langversion/Teil III

1. Januar 1986

Friedensseminare

 

Vipperow: DIE MOBILEN FRIEDENSSEMINARE IM OSTEN MECKLENBURGS Langversion/Teil III


1.1.  Das Mobile Friedensseminar 1986

 

Zur Vorbereitung des Friedensseminars trafen sich am 3. Januar 1986 mehrere Beteiligte des 1985er Friedensseminars in der Wohnung von Ruth und Hans Misselwitz in Berlin. In mehreren der folgenden Sitzungen der Vorbereitungsgruppe[1] wurde erstmalig die katholische Kirche, in deren Gebäuden in Neubrandenburg das Abschlußwochenende stattfinden sollte, in die Vorbereitungen einbezogen. „Durch diese Gruppe wurde die generelle Linie verfolgt, die Gemeindepastoren in die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltungen des Seminars nicht mit einzubeziehen. So sollte z.B. Propst Rabe, der dem Friedensseminar 1986 neue positive Inhalte geben wollte, ausgeschaltet werden.“[2] Belegt diese Passage zwar innerkirchliche Differenzen über das Friedensseminar, so hält doch keiner der damals Beteiligten in der Rückschau die Situation vergleichbar mit der vom 1984er Friedensseminar in Neustrelitz und seiner Vorbereitung.

Meckel und Gutzeit trafen sich außerdem mit LSP Winkelmann, „wo sie alle Probleme zum Seminar abgestimmt haben. Meckel hob besonders hervor, daß Winkelmann außerordentlich entgegenkommend war und alles seine Zustimmung fand.“[3] Vierzehn Tage später schätzte die Abteilung XX/4 der BV Neubrandenburg allerdings ein, „daß am 1. 4. 1986 durch den Lsp. WINKELMANN disziplinierend auf die im OV ‚Wanderer‘ bearbeitete Person eingewirkt wurde.“[4]

Auch in diesem Jahr führte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres, Geisler, im Vorfeld des Friedensseminars Gespräche mit Kirchenvertretern. Zusammen mit dem Referenten für Kirchenfragen, Schiller, und dem Stellvertretenden Oberbürgermeister Neubrandenburgs, Münchow, legte er dem Landessuperintendenten Winkelmann, dem Neubrandenburger Propst Rabe, dem Neubrandenburger Pastor Martins und dem katholischen Generalvikar Michelveit „die staatlichen Erwartungshaltungen offensiv“ [5] dar.

Landessuperintendent Winkelmann sagte zu, sich für ständige Informationen und Absprachen bereitzuhalten.[6] In einem undatierten, wahrscheinlich von Geißler verfaßten Bericht zur kirchenpolitischen Situation im Bezirk sollten im Vorfeld des Friedensseminars mit Personen Gespräche geführt werden, „bei denen eine Teilnahme erkennbar ist. Möglichkeiten des Betriebes, der Einrichtungen, staatliche Leitungsstätigkeit nutzen.“[7]

Am 10. Juli wurden vom Rat des Bezirkes staatliche Maßnahmen zum Friedensseminar festgelegt. Neben den bereits erwähnten Gesprächen wurden Beschlüsse hinsichtlich des innerbehördlichen Informationsflusses und des Einrichtens einer temporären Arbeitsgruppe gefaßt.[8] Am 28. Juli trafen sich die Herren Münchow, Schiller[9] und Retschowski[10] mit den Pastoren Martins und Utpatel im Rat der Stadt Neubrandenburg zu einem Gespräch. „Wir beantworteten entsprechende Fragen, indem wir darauf hinwiesen, daß der gesamte breite Komplex von Frieden, Entwicklungsfragen und Umweltfragen zur Diskussion stehe. [...] Während des Gesprächs wies Herr Schiller des öfteren auf ‚Erfahrungen‘ hin, die er habe - im Blick auf das Seminar in Vipperow und Röbel im vergangenen Jahr insbesondere. Den Landessuperintendenten Winkelmann und Timm habe er im vergangenen Jahr mitgeteilt, daß nicht zugelassen werden würde, daß ähnliches wieder passiere - konkreter wurde er trotz Nachfragen nur in dem einen Punkt ‚Unterschriftensammlung‘. Solches sei von den Verantwortlichen des Seminars zu verhindern.“[11]

 

Das Friedensseminar 1986 stand unter dem Thema „Ich lebe, und ihr sollt auch leben. (Joh. 14, 19) Verantwortung für Lebensrechte: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.“ [12] Das Friedensseminar versammelte in diesem Jahr ca. 120 erwachsene Personen mit ca. 25 Kindern. „Unter den Teilnehmern befanden sich 3 Personen aus der BRD, 2 Österreicher, 1 Person aus Westberlin und 1 Person aus Schweden [...].“[13] Zu den anderen Teilnehmern wußte der Staatssicherheitsdienst: „Von den namentlich bekannten Teilnehmern werden 19 Personen in OV/OPK bearbeitet und kontrolliert. [...] zum Einsatz gelangten 25 inoffizielle Mitarbeiter mit unterschiedlichen Auftragsstrukturen.“

Acht Personen aus nichtsozialistischen Staaten wurde die Einreise verwehrt. „Ein hoher politischer Effekt wurde durch die abgestimmte Verfahrensweise einer differenzierten Genehmigung/Rückweisung von Einreisen bekannter Zielpersonen aus dem Ausland erzielt. Damit verbundene Verunsicherungen bei den Organisatoren störten den Gesamtablauf erheblich.“[14]

Die Gruppen trafen sich in Vipperow, Schwarz, Lärz, Mirow und Ballwitz.[15] Dazu kamen eine Wasserwandergruppe mit 12 Erwachsenen und 7 Kindern und eine Radwandergruppe mit 12 Erwachsenen und 2 Kindern.

 

Ein gemeinsames Arbeitsmaterial für alle Gruppen gab es erstmals nicht. „Grundlage für die Gesprächsrunde in Vipperow bildete ein von Pfarrer MECKEL an die Gesprächsteilnehmer übergebenes 19seitiges Material, verfaßt vom ‚Europäischen Netzwerk für den Ost-West-Dialog‘. [...] Es beinhaltet pseudopazifistische Aussagen zur Friedensproblematik und enthält unter Bezugnahme auf Abschnitt 3 der KSZE-Schlußakte detaillierte Forderungen nach „Freizügigkeit für Menschen, Meinungen und Informationen“ sowie für „ungehinderte Aktionsmöglichkeiten unabhängiger Gruppen in Ost und West.“[16] Der IM stellte zutreffend fest, daß dieses Arbeitspapier[17] sowohl noch einmal das Thema der Rüstung als auch der

Menschenrechte aufgriff. Es behandelte aber ebenso kapitelweise die Problematik der Europäischen Sicherheit und der ökonomischen und ökologischen Zusammenarbeit. Diese liefen unter anderem auf die Forderungen nach einem umfassenden „Test-Stop-Abkommen, das von allen KSZE-Ländern befolgt wird“, die „Veröffentlichung des Militärbudgets“[18] oder die „Neubewertung der Nukleartechnologie [...] angesichts der Lehren der Tschernobylkatastrophe“ hinaus.[19] Prominenter Teilnehmer der Vipperower Gruppe war der in Westberlin lehrende Philosophieprofessor Ernst Tugendhat.[20]

Durch die Anwesenheit von Ibrahim Böhme und die Einrichtung eines Beobachtungsstützpunktes in der Nähe des Pfarrhauses war der Staatssicherheitsdienst eingehend über den Fortgang der Diskussion und die Bewegungen der Teilnehmer informiert. Die Gruppe in Schwarz diskutierte unter anderem die „Bevorzugung“ von Studierenden nach längerfristiger Verpflichtung zum Wehrdienst sowie die Informations- und Reisepolitik der DDR. Daneben spaltete sich die Gruppe wegen Meinungsverschiedenheiten über das Vorgehen gegenüber IM, die in der Gruppe vermutet wurden. Das Mißtrauen, welches Gutzeit vor allem gegenüber dem Berliner IM Wolfgang Wolf der zur Gruppe gehörte, hegte, veranlaßte dessen Berliner Freund Wolfgang Rüddenklau zur Androhung und Abfassung einer Gegendarstellung zur Gruppenarbeit am Abschlußwochenende in Neubrandenburg und einem längeren diesbezüglichen kritischen Artikel in „Die Umwelt-Bibliothek.“[21] Tatsächlich gelang dem Staatssicherheitsdienst durch ein an Wolfgang Wolf appliziertes Mikrofon das Abhören vieler Gruppengespräche, die in einem benachbarten Wohnblock in einer vom Besitzer zu diesem Zweck ausgeliehenen Wohnung mitgeschnitten wurden. Das durch diesbezügliche Auffälligkeiten erzeugte Mißtrauen störte aber auch die Gruppenarbeit. Einen Beobachtungsstützpunkt gab es auch in Lärz. Von dort liegt aber kein Bericht vor. [22]

Die Tätigkeit der Ballwitzer Gruppe ist nicht überliefert. Die Radwandergruppe fuhr von

Hetzdorf über Feldberg nach Neubrandenburg. Die Wasserwandergruppe traf sich in Jabel und fuhr über die Müritz nach Vipperow. Die Wasserschutzpolizei und die jeweils zuständigen ABV übernahmen die MfS-geleitete Beobachtung und die gelegentliche Kontrolle dieser Gruppe.[23]

Die Gruppe in Lärz befaßte sich unter der Leitung von Matthias Süß mit Problemen der Dritten Welt. Die Mirower Gruppe unter der Leitung von Ruth Misselwitz sprach über Menschenrechte, die Radwandergruppe diskutierte Dritte Welt- und, wie die Wasserwandergruppe auch, Umweltprobleme. Die Ballwitzer Gruppe hingegen war ohne Leiter und wohl auch ohne geregelte thematische Arbeit. „Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß es außer in Vipperow und mit Ansätzen in Schwarz zu keiner konstruktiven thematischen Gruppenarbeit kam.“[24] Dies bestreitet Ruth Misselwitz für die Mirower Gruppe nach Maßgabe eigener Kriterien.[25]

 

Am Sonnabend, dem 9. August, hielt der Rostocker Pfarrer Mahlburg den zentralen Vortrag des Abschlußwochenendes zum Thema „Menschenrechte“. „Es war sehr langweilig und sehr ausgewogen. In den Diskussionsgruppen wurde stark kritisiert, daß der Referent den sozialen Menschenrechten Priorität vor den sogenannten ‚bürgerlichen‘ gab. In der Diskussionsgruppe ‚Menschenrechte und Volksbildung‘, an der ich teilnahm, wurden Leistungsterror, Opportunismus und Militarisierung kritisert und die Notwendigkeit stärkerer Beteiligung an den Elternbeiräten diskutiert. In jener [...] Gruppe ‚Menschenrechte und Volksbildung‘ übrigens präsentierte sich der Spitzel Ibrahim Böhme als fähiger Referent erstmals einem DDR-weit beschickten Seminar, vermutlich um seinen Einstieg in die Berliner Friedensbewegung im nächsten Jahr vorzubereiten.“[26]

Auf dem Abschlußplenum am 10. August verabschiedeten die Teilnehmer drei Texte.

„1.-Brief an das ‚Europäische Netzwerk für den Ost-West-Dialog‘ (Pastor MECKEL, TUGENDHAT)

2.-Eingabe an die Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes Neubrandenburg und den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zur Verweigerung der Einreise in die DDR für Bürger der BRD (Pastor MECKEL, Pastor GUTZEIT, WOLLENBERGER; Vera)

3.-Eingabe an die Synode des Bundes sowie das Ministerium für Umweltschutz der DDR zu ökologischen Problemen in der DDR (Wasserwandergruppe unter Leitung von Dr. KNAPP)“.[27]

Den vom zuständigen Gemeindepfarrer Martins durchgeführten Abschlußgottesdienst am 10. August 1986 in der Johanniskirche in Neubrandenburg besuchten ca. 250 Personen.

 

Von der Nachbereitung des Mobilen Friedensseminars 1986 ist lediglich überliefert, daß der am Abschlußsonntag in Neubrandenburg anwesende LSP Winkelmann versprach, die Weiterleitung der oben genannten Willensäußerungen der Seminarteilnehmer „auf persönlichem Wege zu vollziehen und somit Voraussetzungen zu schaffen, mit den staatlichen Organen ins Gespräch zu kommen.“[28] Diesbezügliche Ergebnisse sind nicht bekannt.

 

1.2.  Das Mobile Friedensseminar 1987

 

Das Mobile Friedensseminar 1987 wurde in seinen Grundzügen wahrscheinlich schon bei einem Treffen von Markus Meckel, Martin Gutzeit und anderen am 8. Oktober 1986 in der Wohnung von Hannes Knapp in Waren konzipiert.[29] Auf einer weiteren Vorbereitungssitzung am 20. Januar 1986, die ebenfalls in der Wohnung Knapps stattfand, wurde beschlossen die Teilnehmer darum zu bitten, mit den Anmeldungen auch Erwartungen, Fragen und Meinungen zum Seminar zu äußern. Eine eventuelle Begrenzung der Teilnehmerzahl wurde diskutiert und ein Gruppenleitertreffen auf den 20. Juni 1987 terminiert. Dieses fand auch an diesem Tag in der Wohnung der Beyers in Berlin statt.[30]

 

Der Staatssicherheitsdienst traf eigene Vorbereitungen. Die „Führung der Aktion ‚Seminar VI‘ erfolgt von der BVfS Neubrandenburg (Räume der Abteilung XX) aus (Führungspunkt)“. Durch die „KDfS Röbel wird in der Durchführungsphase ein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt (Stützpunkt) zur Realisierung anfallender Arbeitsaufgaben.“[31]

Die Informationsübermittlung sollte sowohl „in postalischer Form - zwei fiktive Adressaten/postlagernd - Postamt Röbel und Waren“[32] als auch durch Abhörtechnik gewährleistet werden. Die Bild- und Videodokumentation konzentrierte sich auf den Gottesdienst in Röbel, der wieder im Zeichen des Gedenkens an die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki stehen sollte.[33]

Trotz dieses Aufwands erfuhr das Friedensseminar eine neue Bewertung durch das MfS. Ein Mitarbeiter der HA XX/4 vertrat am 9. Juni 1987 zum Friedensseminar den Standpunkt :

„-   handelt sich um eine traditionelle Veranstaltung

Ein Auftritt des Liedermachers Krawczyk sollte zwar weiterhin verhindert werden, die angemeldeten Ausländer konnten aber nach Rücksprache der Bezirksverwaltung mit der Hauptabteilung XX des MfS einreisen.

Zwischen dem 20. und 24. Juli sprachen die Bürgermeister der vom Friedensseminar betroffenen Gemeinden mit den zuständigen Pastoren. Daraufhin beschloß am 27. Juli der Rat des Kreises Röbel Einweisungen und Schulungen der vom Friedenseminar betroffenen Bürgermeister und das einzurichtende Informationssystem, welches diese aufzubauen hatten.[35]

 

Das Friedensseminar stand unter dem Thema „Verantwortung für Lebensrechte“. Aus neun Bezirken der DDR reisten 94 erwachsene Teilnehmer und 30 Kinder an. Dazu kamen 7 westdeutsche Teilnehmer. In sieben Gruppen, darunter zwei Rad- und eine Wasserwandergruppe, wurde anhand eines vorbereiteten Arbeitsmaterials gearbeitet.

 

Dieses Arbeitsmaterial war im Juni 1987 von Markus Meckel und Martin Gutzeit erarbeitet worden und trug den Titel „Verantwortung für Lebensrechte. Thesen und Fragen für die Gruppenarbeit.“[36] Die eingangs bereits erläuterte Problematik von Freiheit und Verantwortung aufgreifend, wurden bibelnah die Rechte und Pflichten des Einzelnen hinterfragt. „In welchem Verhältnis stehen begrenzte/falsche Handlungsperspektiven und persönliche Schuld? Was sind ihre Gründe? [...] Wofür und wem gegenüber tragen wir als einzelne, als Gesellschaft, als Staat Verantwortung? [...] Im Horizont der gesellschaftlichen und weltweiten Verflechtung unseres Tuns und Lassens zeigt sich ein Tun-Ergehens-Zusammenhang, der dann wieder auf jeden Einzelnen zurückwirkt. [...] Recht ist die anerkannte und anzuerkennende und als solche zu garantierende Existenzmöglichkeit des Lebens in seiner Fülle. Verantwortung ist die Art und Weise, in der wir als Einzelne/Gesellschaft/Staat diese Anerkennung realisieren. [...] Zu dieser Verantwortung gehört es, sich dafür einzusetzen, daß die Lebensrechte als nationale und internationale Rechte bestimmt und durch entsprechende Institutionen einklagbar und durchsetzbar gemacht werden. Was solche Lebensrechte [...] sind [...], wäre in jeder Gruppe zu überlegen.“[37] Nach Auffassung des Staatssicherheitsdienstes erfolgte, bedingt durch „die relative Interesselosigkeit vieler Teilnehmer an einer ernsthaften und konstruktiven thematischen Gruppenarbeit und begünstigt durch eine durchgängig schlechte Witterung“ lediglich durch „die in den Orten Grüssow und Vipperow versammelten Teilnehmer eine Gruppenarbeit mit politischer Relevanz.“[38]

 

Die Vipperower Gruppe befaßte sich eingehend mit Problemen der Zweidrittelwelt, die Rambower Gruppe mit alternativer Energie und die Grüssower Gruppe mit dem Thema Osteuropa unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Geschichte und Kultur in diesem Raum. Die Wasserwandergruppe, die von Fürstenberg nach Vipperow fuhr, widmete sich ökologischen Fragestellungen.

Während sich die eine der beiden Radwandergruppen, die von Rödlin nach Vipperow fuhr, mit Sicherheits- und Machtfragen beschäftigte, hatte die andere, die von Penzlin nach Vipperow fuhr, ebenso wie die Wredenhagener Gruppe die Frage des Lebensrechte für Individuen und Völker zum Thema.[39]

Am 6. August fand in der St. Marienkirche in Röbel ein Gedenkgottesdienst für die Opfer der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki statt.

 

Zum Abschlußwochenende trafen sich die Gruppen in Vipperow. Am Sonnabend den 8. August, wurde in der Vipperower Kirche ein von allen Gruppen vorbereitetes Gerichtsspiel durchgeführt, welches sich über den ganzen Tag erstreckte. In verschiedenen Rollen verhandelten die Teilnehmer u. a. Probleme wie:

„-   Gesetz über die Freizügigkeit im Reiseverkehr

Von den Forderungen, die die Teilnehmer (im Zusammenhang damit) in Anträgen einbrachten, erhielten unter anderem folgende eine Zustimmungsmehrheit des Plenums:

„- [...] Recht eines jeden auf Bewahrung seiner kulturellen Identität und auf freie Religionsausübung. Das wurde u.a. konkret bezogen auf die Situation von Ausländern in unserem Land und die Art, wie wir ihnen begegnen.[...]

Im Anschluß an das Gerichtsspiel wurde beschlossen, mit einer Pressemitteilung, „die in den Zeitschriften der BRD (vermutlich TAZ), USA und GB veröffentlicht werden soll,“[42] über das Friedensseminar zu berichten. Abgeschlossen wurde das Friedensseminar durch ein von Meckel am 9. August in Vipperow gehaltenen Gottesdienst.

 

Dominantes Thema dieses Friedensseminars war aber der Olof-Palme-Friedensmarsch. In Briefen an den Friedensrat der DDR und an die Bürgermeister der Städte Berlin, Stralsund, Torgau, Wittenberg und Dresden wurde die Beteiligung von Friedensseminarteilnehmern angekündigt und nach möglichen Terminen für beabsichtigte eigene Redebeiträge gefragt. Vera Wollenberger überbrachte dem Vorsitzenden des Friedensrates persönlich einen Brief. „Ich übergab Herrn Rümpel unseren Brief und kündigte ihm unsere Teilnahme am Olof-Palme-Friedensmarsch auch mündlich an. Er sagte, daß er sich freue und daß wir die volle Unterstützung des Friedensrates hätten, wofür ich mich artig bedankte.“[43] Diese Unterstützung blieb aber aus. Es geschah nichts.

Für den Fall, daß bis zum 24. August 1987 keine Antworten eingegangen sein sollten, wollte der Karlsruher Friedensseminarteilnehmer Kay Raasch[44] „in Abstimmung mit Vertretern der sogenannten unabhängigen Friedensbewegung in der DDR eine Pressekampagne in der BRD [...] starten. [...] Streng intern wurde zu den Plänen des RAASCH weiterhin bekannt, daß es ihm darum geht, während des Besuches des Generalsekretärs der SED, Genossen Erich Honecker, in der BRD und auch bereits im Vorfeld besonders im Fernsehen Meldungen zu lancieren, die den Umgang der DDR mit dem Olof-Palme-Friedensmarsch[45] kritisieren sollen. Diesbezüglich suchte er am 5. 8. 1987 das Internationale Pressezentrum in Berlin auf und sprach dort mit Vertretern von DPA und der Fernsehgesellschaft ARD über die erarbeiteten Konzeptionen und Vorstellungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch.“[46]

Der Staatssicherheitsdienst war gewarnt und beschloß nun: „Zur Verhinderung des politischen Mißbrauchs des ‚Internationalen Olof-Palme-Friedensmarsches‘ sowie zur Gewährleistung eines abgestimmten Vorgehens sollte ein Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Neubrandenburg in die Arbeit des zeitweiligen ‚Komitees Olof-Palme Friedensmarsch‘ einbezogen werden.“[47]

 

In einem Brief vom 11. August 1987 informierte Meckel den Oberkirchenrat in Schwerin über die Schreiben, die die Teilnehmer des Friedensseminars versandt hatten. Geisler wertete mit LSP Winkelmann und LSP Timm im Gespräch das Friedensseminar aus. Ebenso sollte dies

 

der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Röbel für Inneres mit dem Nachfolger Propst Wunderlichs in Röbel Propst Schäper tun.

Eine Redakteurin der „Mecklenburgische[n] Kirchenzeitung“ bat den Berliner Seminarteilnehmer Michael Heinisch, seine Erlebnisse und Gedanken das Friedensseminar betreffend aufzuschreiben. In dem daraufhin entstandenen Text sah der Staatssicherheitsdienst einen Angriff auf die sozialistische Bildungspolitik, die Praxis des Reiseverkehrs und die Energiepolitik. Die BV Schwerin des MfS schlug daraufhin die „Herbeiführung einer Leiterentscheidung zu den Maßnahmen der Verhinderung einer Veröffentlichung“ vor. Eine diesbezügliche „Koordinierung mit der HA XX zwecks Entscheidung im Presseamt beim Ministerrat der DDR“[48] verdeutlicht die Bedeutung, die staatliche Stellen noch immer, entgegen der vorhergenannten neuen Bewertung, dem Friedensseminar beimaßen.

 

1.3.  Das Mobile Friedensseminar 1988

 

Das Friedensseminar von 1988 war das erste ohne Beteiligung von Markus Meckel. Er nahm noch an einigen Vorbereitungssitzungen[49] teil, von denen eine beispielsweise am 30. Januar 1988 bei ihm in Vipperow stattfand. Er zog aber vor Beginn des Friedensseminars nach Niederndodeleben im Bezirk Magdeburg um.

Eventuell auch aus diesem Grund wurde Michael Happe vom MfS beauftragt, sich in der Vorbereitungsgruppe verstärkt zu engagieren. Die Benzinkosten für seine nun häufigeren und weiten Autofahrten erhielt er vom MfS erstattet.[50] Die Vorbereitung lag aber wesentlich in den Händen der Pastoren Hübener und Reincke. Es wiederholte sich auch das aus den Vorjahren bekannte Ritual: Landessuperintendent Winkelmann wurde in Gesprächen mit Geisler mit den „staatlichen Erwartungshaltungen“ vertraut gemacht.

 

Die zuständigen Stellvertreter für Inneres der Räte der Kreise Neustrelitz, Waren und Röbel führten Gespräche mit den Bürgermeistern der vom Friedensseminar betroffenen Orte und den Organisatoren, den Pastoren Utpatel (Rödlin), Hübener (Rambow), Reincke (Penzlin) und Wilpert (Wredenhagen).

 

Insgesamt versammelten sich 94 Erwachsene und 46 Kinder zum Friedensseminar. Diese kamen aus acht Bezirken der DDR, ein Teilnehmer aus Polen und drei aus der Bundesrepublik. Als Einladende fungierte erstmals Irene Hübener, die Ehefrau von Eckart Hübener.

Drei stationäre Gruppen in Rödlin, Rambow und Wredenhagen sowie je eine Fuß-, Rad- und Wasserwandergruppe diskutierten unterschiedliche Themen. Ein Arbeitsmaterial gab es nicht.

Die Rödliner Gruppe beschäftigte sich mit „Hunger und Reichtum“, die Gruppe Rambow mit dem Thema „Angst und Mißtrauen in der DDR“ und die Gruppe Wredenhagen „Armut in der 2/3 Welt - Entwicklunspolitik der DDR“. Hier war Pastor Wilpert erstmals nicht in die inhaltliche Vorbereitung miteinbezogen worden und beschränkte sich deshalb ausschließlich auf die Quartierbereitstellung. Leiter der Gruppe war Mario Schatta aus Berlin.

In der Wasserwandergruppe wurde unter anderem eine Erklärung der Warschauer Vertragsstaaten zu Umweltproblemen diskutiert. „Als ein Ergebnis unserer Diskussionen verfaßten wir einen Bericht, der sowohl der Ökumenischen Versammlung zugeleitet werden soll, wie auch als Eingabe an staatliche Stellen.“[51]

Parallel zu diesen Gruppen traf sich in Groß Luckow eine Gruppe von Ausreiseantragstellern. Obwohl als solche nicht in das Friedensseminar integriert, stellte sie sich doch als dazu gehörig dar. Der Penzliner Pfarrer Reincke hatte ihnen ursprünglich aber lediglich das leerstehende Pfarrhaus in Groß Luckow als Versammlungsort zur Verfügung gestellt.[52]

Als Ergebnis ihrer Besprechungen versandten sie einen Brief an alle Volkskammerabgeordneten. In diesem Brief wurden „unter Mißbrauch des ‚Friedensseminars‘ und unter Verweis auf Artikel 56, Abs. 3 der Verfassung der DDR Forderungen nach Rechtssicherheit im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN-Konvention 217/III) in der DDR erhoben.“[53]

Die Teilnehmer der eigentlichen Friedensseminargruppen fühlten sich durch diese Gruppe

 

vereinnahmt, wie es Marianne Gloßmann in einer Nachbesprechungsnotiz formulierte.[54]

 

Das Abschlußwochenende fand in Penzlin statt. Am Sonnabendnachmittag problematisierte der Theologe Curt Stauss in einem Vortrag das Weltwirtschaftssystem. „Bezugnehmend auf die Jahrestagung von Internationalem Währungsfond und Weltbank im September in Westberlin, stellte er die Bedeutung dieser Institutionen und die verheerenden Folgen ihrer Kredit- und Zinspolitik dar.“ [55] Für die Wasserwandergruppe hatte Bernd Winkelmann den bereits erwähnten „Bericht verfaßt, den die Teilnehmer des Seminars übernahmen. Er wurde an das ZK der SED gesandt und dem Sekretariat der ,Ökumenischen Versammlung‘ in Dresden zugeschickt. In diesem Bericht wurden drei Forderungen erhoben, die sich auf eine elementare Veränderung der Lebensweise, die Veränderung des Preisgefüges zugunsten eines ökologischen Konsums und die offene innenpolitische Information über die ökologischen Zustände in der DDR bezogen“.[56]

Den Abschlußgottesdienst am Sonntag besuchten nur noch dreißig Teilnehmer des Friedensseminars. Bernd Albani stellte daher resümierend fest, „daß etliche der Seminarteilnehmer erst gar nicht nach Penzlin gekommen waren. Und von den gekommenen reisten im Laufe des Nachmittags viele ab. So kam es nur ansatzweise zum Austausch über die thematische Arbeit in den einzelnen Gruppen. Mir scheint dies einen Trend in der Arbeit mancher Friedens-, Gerechtigkeits- und Ökogruppen zu signalisieren: einen gewissen Hang zu Partikularismus und Unverbindlichkeit. Austausch und Zusammenarbeit zwischen Gruppen finden nicht statt, werden auch von etlichen gar nicht gesucht, man ist sich selbst genug. Sollte sich diese Tendenz verstärken, so wäre das verhängnisvoll, besonders im Blick auf das konziliare Geschehen.“[57]

 

Auch in diesem Jahr wertete der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres, Geisler, das Friedensseminar mit LSP Winkelmann aus, wie es auch der Stellverteter des Vorsitzenden für Inneres des Rates des Kreises Waren mit Reincke tat. Propst Haack stellte gegenüber dem Rat des Kreises Waren mit Blick auf die Pastoren Hübener und Reincke fest: „Als positiv möchte ich werten, daß andere Pastoren unseres Kreises sich nicht an der Vorbereitung des Friedensseminars beteiligten.“[58]

Etwa einen Monat später befand derselbe Rat des Kreises in einer Einschätzung der kirchenpolitischen Lage für den Rat des Bezirkes: „Dieses Seminar verlief verhältnismäßig ruhig und beschäftigte sich in erster Linie mit innerkirchlichen Fragen.“[59]

 

1.4.  Das Mobile Friedensseminar 1989

 

Die Überlieferung an Dokumenten zum Friedensseminar von 1989 ist vergleichsweise gering. Deshalb kann sein Verlauf nur in wenigen Zügen dargestellt werden.

 

In der Aufgabenstellung der Koordinierungsgruppe Kirchenpolitik bei der Bezirksleitung der SED für das erste Halbjahr 1989 vom 18. Januar 1989 nahm die „Information zum Stand der Vorbereitung - Kontrolle - des ‚9. Mobilen Friednesseminars‘ innerhalb des Bezirkes“[60] noch einen vorrangigen Platz ein.

 

Schon am 8. Februar 1989 teilte die Kreisdienststelle Röbel der Bezirksverwaltung des MfS in Neubrandenburg mit, daß auch für 1989 wieder ein Friedensseminar geplant sei, welches hauptsächlich von Propst Schäper vorbereitet und verantwortet werden sollte.[61]

 

Im Arbeitsplan für Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Neubrandenburg für das erste Halbjahr 1989 fand das Friedensseminar jedoch keine Erwähnung. Geisler teilte dem neuen Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, am 5. Juli lediglich den Zeitraum, 28. Juli 1989 bis 6. August 1989, mit, in dem das Friedensseminar stattfinden sollte.[62] Landessuperintendent Winkelmann übernahm kirchlicherseits wieder die Verantwortung für das Friedensseminar. „Als maßgebliche Organisatoren und Initiatoren wirken die Pastoren Utpatel, Reincke, Hübener, Schäper und Jugenddiakon Lewek“[63], die sich am 30. Januar 1989 erstmalig zu einem Vorbereitungstreffen versammelten.[64]

 

Das Thema dieses Friedensseminars war „Wohin gehen wir in unserem Land?“. „Menschen in unserem Land erleben die Gegenwart ganz unterschiedlich [...]. Manche suchen ihre Zukunft jenseits der Grenze. Manche versuchen, einen Bereich des Lebens zu retten, in dem sie ihre Ruhe haben.“[65] Eine thematische Arbeit anhand eines Arbeitsmaterials gab es  nicht. Neben stationären Gruppen in Penzlin und Rambow waren eine Fuß-, Rad- und Wasserwandergruppe vorgesehen.[66] Die Gruppe in Penzlin sollte Mario Schatta leiten, „ein maßgeblicher zentraler Initiator zur Entfachung einer ‚Protestwelle unter kirchlichen Basisgruppen und darüber hinaus, gerichtet gegen das offizielle Ergebnis der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989.“[67] Die Rambower Gruppe leitete Pastor Hübener. Die Radwandergruppe leitete Pastor Henning Utpatel und die Wasserwandergruppe H.-H. Fokken. Als Fußwandergruppen waren Teilnehmer aus Röbel unter Leitung von Pastor Schäper und das „Mobile Friedensseminar“ von Heiko Lietz von Güstrow nach Waren unterwegs.[68]

„Einzelne thematische Gespräche innerhalb der Gruppen zu Problemen, des Umweltschutzes,

der Energiepolitik und zu Konfliktmöglichkeiten beinhalteten insgesamt keine bedeutsamen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR bezogenen Aspekte.“[69]

 

Das Abschlußwochenende verbrachten alle Gruppen gemeinsam in Waren, was schon frühzeitig, kurz nach Ende des 1988er Friedensseminars, so geplant worden war.[70] Die zentrale Veranstaltung des Abschlußwochenendes sollte eine „Konfliktbewältigungsspielszene“[71] sein. Am Sonntag, dem  6. August, schloß ein Gottesdienst in Waren das Friedensseminar ab.

 

Der neue Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes Neubrandenburg, Schönwald, berichtete an Löffler: „[...] das diesjährige ‚Mobile Friedensseminar‘ der Landeskirche Mecklenburgs fand ausschließlich im Kreis Waren statt. Auch hier kann eingeschätzt werden, daß es zu keinerlei politisch wirksamen Aktivitäten kam. Im Vorfeld wurden Gespräche mit LS[P] Timm geführt und die Erwartungshaltung ausgesprochen. Es ist ein deutlicher Rückgang der Teilnehmer zu verzeichnen. Ausblick auf ein eventuelles Friedensseminar im nächsten Jahr gab es nicht.“[72] Auswertungsgespräche sollten Schönwald mit LSP Winkelmann und der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Waren für Inneres mit den Pastoren Reincke und Hübener führen.

 

 

2.     DIE KIRCHE UND DAS MOBILE FRIEDENSSEMINAR

 

Die Kirchenpolitik der SED und der staatlichen Organe orientierte sich am Differenzierungsprinzip, das sich gegen die Einheit der christlichen Kirchen und auch die ihrer Mitglieder richtete. Sie unterstellte, daß durch die Entwicklung des Sozialismus in der DDR die Kirchen sich an die gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen hätten. Das würde zu einer Spaltung innerhalb der Kirche(nführung) führen, indem eine zunehmende Anzahl der Christen sich den Zielen des Sozialismus verschreiben würden, während andere „reaktionären“ christlichen Werten verhaftet blieben. Über diese Spaltung und Schwächung der Kirche sollte deren prognostizierter Untergang beschleunigt werden.

Nach dem fehlgeschlagenen Kirchenkampf von 1952/53 fand die SED mit der Jugendweihe einen Weg, der Kirche wenigstens die nachfolgenden Generationen zu entfremden. Unter anderem wegen dieser und anderer Schwächungen waren die Evangelischen Landeskirchen 1969 bereit, sich aus der gesamtdeutschen EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) zurückzuziehen und den BEK (Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik) zu gründen. Nach der Eisenacher BEK-Synode von 1971 faßten viele Christen das Selbstverständnis ihrer Kirche in der Formel „Kirche im Sozialismus“ zusammen.

Diese wurde nun innerhalb der kirchenleitenden Gremien verschieden ausgelegt. Betonten manche Kirchenführer tatsächliche oder konstruierte Gemeinsamkeiten von sozialistischer und christlicher Ethik und Vision, blieben andere beim Primat des Wortes Gottes und seiner Offenbarung gegenüber dem Marxismus-Leninismus. Daraus resultierte zwangsläufig Widerstehen gegen Vereinnahmungs- und Instrumentalisierungsversuche. In diesem Konflikt stand nicht nur die Kirche als Gesamtheit sondern auch jeder einzelne Christ. Inwieweit er sich nun in seinem christlichen Selbstverständnis oder Amt auf staatliche Erwartungshaltungen einließ, war jeweils Ergebnis persönlicher Entscheidung. Diesen individuellen Problemaustrag, an dem die Differenzierungspolitik des Staates ansetzte, spiegelt auch das Verhältnis der ELLKM zum Mobilen Friedensseminar wider.

 

Auf der Landessynode der Mecklenburgischen Landeskirche im Herbst des Jahres 1981 wurde der Rostocker Pfarrer Walther Bindemann zum Beauftragten für die Friedensarbeit in der Mecklenburgischen Landeskirche berufen. In diesem Nebenamt oblag ihm, beraten durch die Arbeitsgruppe Frieden (AGF), die Koordinierung der Friedensarbeit der verschiedenen Basisgruppen und die Kontaktherstellung zwischen diesen und der Kirchenleitung.

Bischof Rathke[73] formulierte in einem Brief an Bindemann vom 5. November 1981 genauer: „Weitergabe von Informationen in Sachen Friedensdienst, Vorbereitung von Rüstzeiten und Rüsttagen in der Landeskirche, Beratung bei der Seelsorge und Begleitung von Gemeindegliedern, die bei der Volksarmee oder bei den Bausoldaten Dienst tun.“[74]

Im Jahre 1981 wurde die Zusammensetzung der AGF noch allein durch den Oberkirchenrat bestimmt. Das führte dazu, daß dem OKR eher ungenehme Pfarrer wie Heiko Lietz, Dieter Nath, Henning Utpatel oder Markus Meckel der AGF offiziell nicht angehörten, diese sehr wohl aber maßgeblich mitgestalteten.

Nachdem Pfarrer Bindemann am 28. Februar 1985 mit einem Brief an den OKR sein Amt zum 31. März 1985 niedergelegt hatte, wurde nach längeren Querelen die Arbeit und Organisationsstruktur der AGF neu definiert und das Gewicht der Basisgruppenvertreter in ihr gesteigert. Mit Heiko Lietz wurde ein neuer Beauftragter für die Friedensarbeit berufen.

 

Auch das Mobile Friedensseminar war unter anderem durch Markus Meckel (1981-1985 außerordentliches, 1985-1988 ordentliches Mitglied) in der AGF vertreten und dadurch kirchlich integriert und legitimiert. Ebenso wie das Seminar von Heiko Lietz wurden in diesem Gremium die einzelnen Mobilen Friedensseminare besprochen und „abgesegnet“.

Nach anfänglichen Problemen von Mitgliedern des Oberkirchenrates mit dem Charakter und den Initiatoren des Friedensseminars gelang vor allem durch Vermittlung von Pfarrer Bindemann die Integration des Friedensseminars in die Verantwortung der ELLKM. Darin ist ein eingeschränktes Bekenntnis der ELLKM zum Mobilen Friedenseminar zu erkennen. Das Mobile Friedensseminar wurde auch zu einem Gegenstand des jährlichen Arbeitsberichtes der AGF und damit des Arbeitsberichts des OKR an die Landessynode.

Trotzdem generierte das Mobile Friedensseminar innerkirchliche Probleme. Aversionen kirchenleitender Persönlichkeiten seinen Veranstaltern gegenüber wie auch generelle Kritik an der Arbeit der Arbeitsgruppen seitens kirchlicher Mitarbeiter bedingten Konflikte, die in jedem Jahr aufs Neue hervortraten. Diese Konflikte nutzten der Staatssicherheitsdienst und die „offizielle Kirchenpolitik“ für ihre Differenzierungspolitik.

 

Im Zentrum der innerkirchlichen Auseinandersetzungen standen die beiden Landessuperintendenten Timm aus Malchin und Winkelmann aus Neustrelitz. In ihren Amtsbereichen konzentrierten sich die Aktivitäten des Friedensseminars. Sie waren Vorgesetzte von Pastoren, die das Seminar organisierten. So war Timm für Pfarrer Meckel als Landessuperintendent zuständig, desgleichen Winkelmann für Pfarrer Gutzeit.[75]

Besonders LSP Winkelmann war bemüht, über seine Verantwortung den Verlauf des Friedensseminars zu beeinflussen oder es ganz zu verhindern. Anfangs, im Jahre 1982, beabsichtigte Winkelmann noch, für das Seminar „die Rechtsträgerschaft zu übernehmen.“ Er „stellt sich voll hinter diese Aktivitäten“,[76] heißt es in einem IM-Bericht vom 7. April 1982. Aber unter anderem bedingt durch das 1984er Seminar änderte sich seine Meinung drastisch, so daß er im März 1985 gegenüber dem IM Ibrahim Böhme sinngemaß äußerte: „Nachdem diese Sache hier gelaufen sein wird, gemeint ist das Friedensseminar, wird man sich an den Landesbischof wenden, mit der Bitte, sich von Markus Meckel zu lösen.“[77]

Für das Jahr 1984 ist das behindernde Eingreifen Winkelmanns in Vorbereitung und Durchführung des Friedensseminars durch Akten belegbar. Unterstützt durch Propst Weinrebe in Wesenberg, der sich nahezu jährlich gegen die Friedensseminare auch gegenüber staatlichen Stellen aussprach und den Pfarrer und IM Pietsch in Strasen, hatte er nicht nur in diesem Jahr einen gewissen Rückhalt bei einem Teil der ihm zugeordneten Pfarrerschaft. Wesentlichen Einfluß, gerade hinsichtlich seiner Haltung zum Friedensseminar, übte der IM Ibrahim Böhme auf den ihm nahestehenden LSP Winkelmann aus. Nicht zuletzt ist von einer gezielten Einflußnahme des IM Thiedt auf seine Ehefrau, die Pastorin in Schillersdorf und LSP Winkelmanns Amtsbereich zugeordnet war, auszugehen.

Neben mindestens vier Gesprächen des Mitarbeiters für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Schwerin, Franze, mit verschiedenen Oberkirchenräten und dem Landesbischof im Vorfeld des 1984er Friedensseminars, kam es zu mehreren diesbezüglichen Gesprächen zwischen Vertretern des Rates des Bezirkes Neubrandenburg mit den Landessuperintendenten Timm und Winkelmann als auch Pastor Zarft aus Neustrelitz.

In einem solchen Gespräch am 26. Juli 1984 vereinbarte LSP Winkelmann mit Schiller und Zeppelin unter anderem, „daß eine ständige Abstimmung zu den Veranstaltungen und der Einhaltung der sachbezogenen gemeinsamen Festlegungen vorgenommen wird und zwar nur zwischen Pastor Zarft und K. Winkelmann und Gen. Schiller sowie Gen. Zeppelin.“[78] Während sich unter anderem Pastor Zarft und auch OKR Schwerin zurückhaltend gegenüber Forderungen nach Einflußnahme auf das Friedensseminar und Pastor Meckel verhielten, befolgte LSP Winkelmann offensichtlich alle staatlicherseits ihm angetragenen Forderungen.

In einem Auswertungsgespräch zum Friedensseminar, ebenfalls mit Schiller und Zeppelin, konnte deshalb festgestellt werden: „Das sachliche und konstruktive Zusammenwirken der Veranstaltungsverantwortlichen mit den zuständigen staatlichen Organen war gewährleistet. [...] Politisch negative Auswirkungen wurden mehr oder weniger unterbunden und Konfrontationen vermieden. [...] Durch die gute gegenseitige Absprache war es möglich, evtl. Hemmnisse, was den Inhalt und die Aussage der Ausstellung und die Verbreitung von Material betrifft, vorher zu beseitigen.“[79] Inwieweit die Intention, die Anzahl der „Teilnehmer soweit wie möglich zu begrenzen - hätten mehr teilgenommen, wäre es komplizierter geworden“,[80] auch die Absicht Winkelmanns war, ist nicht eindeutig festzustellen.

Der Bezirksbeauftragte des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Will, konnte in einem „Kurzbericht über die Dienstreise am 29. 8. 1984 nach Neubrandenburg“[81] dem Staatssekretär mitteilen: „Winkelmann brachte dabei [Gespräch am 28. Juli - d. Autor] seine Dankbarkeit zum Ausdruck, daß die von den staatlichen Stellen erhaltenen Informationen ihn in die Lage versetzt hätten, konkret auf Personen Einfluß zu nehmen. [...] Im Rat des Bezirkes wird eingeschätzt, daß die kontinuierliche, abgestimmte und offene Gesprächsführung mit LS[P] Winkelmann eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Einflußnahme auf die Friedensseminare war.“

Da kein Dokument, welcher Herkunft auch immer, diese Wertung in Frage stellt und auch die Erinnerungen der Teilnehmer dieses Verhalten Winkelmanns bestätigen, muß in der Person Winkelmanns mindestens für das Friedensseminar 1984 eher ein Behinderer denn Beförderer des Friedensseminars gesehen werden.

Kann Landessuperintendent Timm auch nicht zu den Förderern des Friedensseminars gezählt werden, ist dennoch sein moderates Eingreifen in Planung und Verlauf des Friedensseminars nachweisbar.

 

Teile der Pfarrerschaft wandten sich ebenfalls gegen das Mobile Friedensseminar und seine Veranstalter. Diese waren aber nicht ernsthaft willens oder in der Lage, das Friedensseminar nachhaltig zu behindern oder gar zu verhindern.

Inwieweit Gemeindekirchenräte sich für oder wider das Mobile Friedensseminar verwandten, ist nicht feststellbar. Tatsache aber ist, daß spätestens ab 1984 seitens der Räte der Kreise versucht wurde, Gemeindekirchenratsmitglieder über die Bürgermeister in die Beobachtung und Behinderung des Friedensseminars mit einzubeziehen.

 

Unterstützt wurde das Mobile Friedensseminar und sonstiges oppositionelles Handeln in der Mecklenburgischen Landeskirche durch die beiden in den achtziger Jahren amtierenden Bischöfe Rathke und Stier.[82] Dies belegen nicht nur die Mehrheit der überlieferten Akten, auch die Aussagen der Initiatoren des Friedensseminars bestätigen diese Einschätzung. Dieses letztinstanzlichen innerkirchlichen Rückhalts versicherte sich vor allem Meckel des öfteren in Gesprächen.

 

 

[1] Dieser Vorbereitungsgruppe gehörten ständig M. Gutzeit, A. Händler, E. Hübener, H. Knapp, M. Meckel, H. Utpatel und E. Wilpert an. Die Sitzungsprotokolle vom 19.3. und 16. 4. 1986 sind im Archiv von E. Wilpert überliefert.

[2] „Bericht zur kirchenpolitischen Situation“ vom 16. September 1986 vom Rat der Stadt Nbg. LHMV Best. RdB Nbg. Z/77/90 - 820.

[3] „Information zum Verlauf des letzten Friedenskreises vor dem XI. Parteitag in Vipperow am 10. 4. 1986“ vom 14. April 1986 von IMB „Klaus Neiß“ an Führungsoffizier Leutnant Kube, Stasiakten Meckel Band 6 Blatt 224, Archiv Meckel.

[4] „Einschätzung der Wirksamkeit und der Ergebnisse des IM-Einsatzes sowie operativ-technischer Maßnahmen in der Bearbeitung des OV ‚Wanderer‘“ vom 28. April 1986 durch die Abt. XX der BV Nbg, Stasiakten Meckel Band 6 Blatt 224, Archiv Meckel.

[5] „Information über kirchliche Veranstaltungen vom 2. 8. 1986 bis 10. 8. 1986 im Bezirk Neubrandenburg (‚V. Mobiles Friedensseminar‘) vom 11. August 1986, Stasiakten Meckel Band 6 Blatt 375, Archiv Meckel.

[6] „Information zum Stand des 5. Mobilen Friedensseminars 1986“ undatiert, LHMV Best. RdB Nbg. Z/77/90 - 817.

[7] „Bericht zur kirchenpolitischen Situation im Bezirk“ undatiert, LHMV Best. RdB Nbg. Z/77/90 - 874.

[8] Vgl. „Staatliche Maßnahmen in Durchführung der kirchlichen Aktivitäten (5. Mobiles Friedensseminar) 1986 in der Stadt Neubrandenburg und in den Kreisen Röbel (Vipperow), Neustrelitz (Schwarz/Mirow, Lärz), Neubrandenburg (Ballwitz) Strasburg (Hetzdorf) Waren (Rambow) in der Zeit vom 02. - 10. 8. 86“ vom 10. Juli 1986 vom RdB Nbg, LHMV Best. RdB Nbg. Z/77/90 - 817.

[9] Mitarbeiter für Kirchenfragen beim Stv. des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Neubrandenburg.

[10] Mitarbeiter für Kirchenfragen beim Rat der Stadt Neubrandenburg.

[11] „Aktennotiz“ zum Gespräch von Herrn Münchow, Herrn Schiller und Herrn Retschowski einerseits und Pastor Martins und Utpatel andererseits, Archiv Utpatel.

[12] „Information über kirchliche Veranstaltungen vom 2. 8. 1986 bis 10. 8. 1986 im Bezirk Neubrandenburg (‚V. Mobiles Friedensseminar‘)“ vom 11. August 1986, Stasiakten Meckel Band 6 Blatt 373, Archiv Meckel.

[13] Ebenda.

[14]„Information über kirchliche Veranstaltungen vom 2. 8. 1986 bis 10. 8. 1986 im Bezirk Neubrandenburg“ vom 18. August 1986, BSTU Ast. Nbg., BV Nbg. AKG Nr. 679 Blatt 019.

[15] Siehe Karte im Anhang.

[16] „Information über Inhalt und Verlauf des ‚V. Mobilen Friedensseminars‘ und der ‚mecklenburgischen Friedenswanderung 86‘ im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg“ vom 21. August 1986, Stasiakten Meckel Band 6 Blatt 390, Archiv Meckel.

[17] „Das Helsinki-Abkommen mit realem Leben erfüllen. Internes Arbeitspapier Friedensseminar Gruppe Vipperow“, Archiv Meckel. „Dieser dritte Entwurf für ein Memorandum Ost- und Westeuropas ist an die KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien (Nov., 1986) gerichtet. [...] Zu unterstreichen ist der Umstand, daß dieser dritte Entwurf noch für Kritik, Korrekturen und Verbesserungen offen ist.“ Arbeitspapier, S.17. Die Vipperower Gruppe erarbeitete Verbesserungen, die am Abschlußwochenende vom Plenum des Friedensseminars beschlossen wurden und an das Netzwerk für den Ost-West-Dialog versandt wurden. Inwieweit die von der Vipperower Gruppe erarbeiteten Vorschläge in das der KSZE-Folgekonferenz vorgelegte Dokument eingingen, ist noch nicht feststellbar.

[18] Ebenda, S. 8.

[19] Ebenda, S. 14.

[20] Die beiden Philosophieprofessoren der FU-Berlin Ernst Tugendhat und Michael Theunissen waren Anfang der achtziger Jahre einerseits in der Friedensbewegung aktiv als auch andererseits Veranstalter gemeinsamer Hegelseminare, in denen sie antipodische Haltungen einnahmen. Unter anderem dadurch errangen sie exponierte Stellungen innerhalb der deutschsprachigen Philosophie. Im Jahre 1981 kamen Michael Theunissen und einige seiner Assistenten und Studenten für drei Tage nach Vipperow, um hier gemeinsam mit Ostdeutschen die Hegelsche Reflexionslogik zu diskutieren. Durch diesen Kontakt besuchte 1985 Ernst Tugendhat, der vor allem in der Sprachphilosophie Bedeutung erlangte, zusammen mit seinem Assistenten Thomas Kesselring das Friedensseminar.

[21] Vgl. Wolfgang Rüddenklau: „Schwarze Tage in Schwarz - Szenen aus dem diesjährigen mobilen Friedensseminar“ in: Die Umwelt-Bibliothek 375, September 1986, S.2, in: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989 mit Texten aus den Umweltblättern, Berlin 1992, S. 81-83.

[22] Möglicherweise existierte dieser Beobachtungsstützpunkt nur, um einer möglichen „Gefährdung“ des nahegelegenen Militärflughafens durch das Friedensseminar frühestmöglich begegnen zu können.

[23] Vgl. „L a g e f i l m zur Aktion ‚Seminar V‘ (2. 8. - 10. 8. 1986)“ der Einsatzgruppe des MfS, BSTU Ast. Nbg., BV Nbg. Abt. XX Nr. 176.

[24] „Information über kirchliche Veranstaltungen [...]“ vom 18. August 1986, Blatt 022.

[25] Gespräch mit Ruth Misselwitz am 28. Juni 1999.

[26] Wolfgang Rüddenklau: Schwarze Tage in Schwarz - Szenen aus dem diesjährigen mobilen Friedensseminar“ in: Die Umweltbibliothek 375, September 1986, in: Ders.: Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989 mit Texten aus den Umweltblättern, Berlin 1992, S. 82.

[27] „Ergänzung Wanderer“ vom 8. September 1986, Stasiakten Meckel Band 7 Blatt 007, Archiv Meckel.

[28] „Information über kirchliche Veranstaltungen [...]“, Blatt 024.

[29] Ebenda.

[30] Vgl. „Information zum Stand der realisierten Maßnahmen zur politisch-operativen Kontrolle des sogenannten Mobilen Friedensseminars 1987“ vom 5. Juni 1987, Stasiakten Meckel Band 7 Blatt 250, Archiv Meckel, und „Bericht zur vorbereitenden Sitzung zum Friedensseminar 1987 in Mecklenburg am 20. 6. 87 in Berlin“ vom 30. Juni 1987 von der Kreisdienststelle des MfS Waren, Stasiakten Meckel Band 7 Blatt 279, Archiv Meckel.

[31] „VI. mobiles Friedensseminar in Mecklenburg (1.8. bis 9.8. 1987) vom 8. Juli 1987, BSTU Ast. Nbg., BV Nbg. Abt. XX Nr. 172. Blatt 037.

[32] Ebenda.