Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Schwerin: Genosse Wulf schreibt eine Generalkritik

1. Juni 1973

Akademiker Opposition durch SED-Mitglieder Nationale Volksarmee Samisdat Westmedien Publikationen in der Bundesrepublik Deutschland

Der Renegat Amandus Wulf

Christoph Wunnicke

 

Amandus Wulf stammte wohl aus Schwerin; sein Vater war Steuerassistent. Nach der mittleren Reife begann er im Frühjahr 1939 eine Ausbildung in der Finanzverwaltung, wurde 1941 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und diente von 1942 bis 1945 als Soldat (Gefreiter). Wegen „Selbstverstümmelung“ stand er zeitweilig vor einem Marine-Kriegsgericht. Im Juli 1945 trat er der KPD bei und nahm zunächst wieder eine Tätigkeit in der Finanzverwaltung Schwerins auf. Im April 1946 wechselte er in die Informationsabteilung der Landesregierung Mecklenburg. Von dort wurde er an die Parteihochschule delegiert, wo er als kräftiger, auffallend diskussionsfreudiger und kritischer Geist beschrieben wurde.¹

Frühe Karriere und wachsende Nonkonformität

Nach dem Lehrgangsende im November 1949 arbeitete Wulf als Lehrer und Schulleiter an der Verwaltungsschule Hasenwinkel in Mecklenburg. 1951/52 war er beim Landesvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Schwerin tätig. Im Juli 1952 trat er in die Kasernierte Volkspolizei ein, wurde Lehrstuhlleiter an der Offiziersschule in Babelsberg und später stellvertretender Leiter der Politabteilung, die die politische Ausbildung der KVP- bzw. NVA-Marine verantwortete. Im Jahr 1956 wurde er wegen Kritik verwarnt; im November 1963 schied er im Rang eines Oberstleutnants aus der NVA aus.²

Wissenschaftliche Arbeit zwischen Loyalität und Widerspruch

Nach dem Ausscheiden aus der Armee wurde Wulf Lektor im DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme in Babelsberg. 1966 promovierte er an der Universität Rostock mit einer Arbeit zur Geschichte des deutschen Flottenverbandes. In den Jahren 1967 bis 1971 wirkte er als Oberassistent an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ (DASR). Interne Spannungen an der Akademie kulminierten um 1969/70 in Auseinandersetzungen über Leitung, Forschungsprofil und politische Linie; in MfS-Berichten erscheint Wulf als Initiator einer kritisch-grundsätzlichen Debatte in der Abteilung Auslandsinformation. Im August 1971 wurde er nach „vielen politischen Auseinandersetzungen“ aus dem Hochschuldienst entlassen und vorzeitig in den Ruhestand versetzt.³

Kulturpolitik und historische Studien der späten 1960er Jahre

Parallel zu seiner Tätigkeit publizierte Wulf einschlägige Studien. 1968 verfasste er für das Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien einen Langbeitrag über den Deutschen Flottenverein; im selben Jahr und 1969 analysierte er in DDR-Zeitschriften die „auswärtige Kulturpolitik Bonns“ als Bestandteil der psychologischen Kriegsführung. Zeitgenössische Autorinnen wie Erna Heckel rezipierten und akzentuierten diese Argumentationslinie, während die Forschung der 1970er Jahre (etwa Lindemann/Müller) Wulfs Thesen im Rahmen der kulturpolitischen Abgrenzungsdebatte diskutierte.⁴

Repression und Überwachung

Die Entlassung im Jahr 1971 markierte eine Zäsur. Wulf verfasste 1973 ein Memorandum unter dem Titel „Was tun 1974. Fragen und Antworten an die Kommunisten von heute“, das er – teils über seinen 1973 in die Bundesrepublik geflohenen Sohn Sturmo Wulf – im Westen veröffentlichen lassen wollte. Seit 1974 überwachte ihn das MfS engmaschig; sein Vorgang lief unter dem Arbeitstitel „Renegat“. Man erwog eine strafrechtliche Verfolgung, drängte auf psychiatrische Untersuchungen und entzog ihm im September 1974 die Invaliden- und „Intelligenz-“Rente. Wulf verweigerte sich zunächst einer Untersuchung, fügte sich dann im April 1975, setzte aber seine schriftliche Arbeit fort. In MfS-Beurteilungen wurde ihm eine „antisowjetische Linie“ und „antimarxistische“ Haltung unterstellt. Trotz Isolationsbemühungen blieb er bei seinen Positionen; Wulf starb im Juli 1981 im Alter von 58 Jahren in Schwerin.⁵

Gegen Wulf lief 1972 ein Parteiverfahren, nachdem sein Sohn Sturmo 1973 „Westkontakte“ intensiviert und die DDR verlassen hatte; interne Charakterisierungen vermerkten Wulfs Weigerung, familiäre Konflikte „pädagogisch“ in Partei-Logik zu übersetzen. Privater Austausch zwischen Wulf und dem Schriftsteller Stefan Heym bildete eine weitere Spur: Anregungen aus der Familiengeschichte – insbesondere die Mauerepisoden des Sohnes – flossen in Heyms Erzählung Mein Richard ein. Die dichte Beobachtung des literarischen Milieus durch das MfS erfasste dabei sowohl Heyms Netzwerke als auch den Verbleib von Manuskripten Wulfs im privaten Umfeld.⁶

 

 

Hermann Weber / Gerda Weber, Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum Dissidenten, Berlin 2002, S. 163.
Weber/Weber 2002, S. 163; ebd., S. 292 (zum Umfeld Wölk/Nehmer).
Weber/Weber 2002, S. 163–164.
Amandus Wulf, „Deutscher Flottenverein“, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 432–449; ders., „Die auswärtige Kulturpolitik Bonns – Bestandteil der psychologischen Kriegsführung“, Außenpolitische Korrespondenz, Nr. 33/34, 22.8.1968; ders., „Funktion und Konzeption der Bonner auswärtigen Politik“, Deutsche Außenpolitik, 7/1969, S. 831–845; Erna Heckel, „Kulturpolitische Expansion …“, Weimarer Beiträge, 11/1970, S. 85–109; Hans Lindemann / Kurt Müller, Auswärtige Kulturpolitik der DDR, Berlin 1974, S. 61.
Weber/Weber 2002, S. 164.
Weber/Weber 2002, S. 408.