Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern

Rostocker Appell

11. November 1983

Friedenskreise Aufrufe Unterschriftensammlung

DER ROSTOCKER APPELL


Christoph Wunnicke


Der "Berliner Appell"[1] zur Abrüstung vom Dezember 1981 fand im Norden der DDR kaum aktives Echo.  Bischof Heinrich Rathke[2] immerhin begrüßte ihn wegen seiner praktischen Vorschläge.[3]  Westdeutsche Grüne hatten zwei Jahre später mit dem Mitverfasser des „Berliner Appels“, Rainer Eppelmann[4] und anderen verabredet, am 4. November 1983 gemeinsam mit belgischen und niederländischen Mitstreitern Briefe mit Abrüstungsforderungen in der amerikanischen und sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin abzugeben.[5] Da dies im Vorfeld durch Grünen-Mitglieder öffentlich bekannt wurde, scheiterte die Aktion und Eppelmann brach vorerst mit den Grünen. Auf der Fahrt zu dieser später abgesagten Aktion wurde Heiko Lietz im Zug von Güstrow nach Berlin verhaftet. Nachdem ihm, wieder zurück in Güstrow im Gebäude der Staatssicherheit, eröffnet wurde, dass die Festnahme der Verhinderung einer Teilnahme an der Grünen-Aktion diene, kam das Gespräch schnell auf seine Friedensarbeit im Norden der DDR.[6]

 

Eine Woche später veröffentlichten Lietz und der Warnemünder Friedenskreis während der Friedensdekade in Anlehnung an den „Berliner Appell“ den „Rostocker Appell“.[7] Dieser wandte sich gegen die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen und wurde schnell ca. 100mal unterschreiben. Der Appell lautet:

 

„Mit Entsetzen haben wir, die Unterzeichneten, Christen und Nichtchristen, die Mitteilung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 15. Oktober 1983 zur geplanten Aufstellung sowjetischer Raketenkomplexe operativ-taktischer Bestimmung aufgenommen. Ausgehend von unserer christlichen und humanistischen Grundeinstellung und von der Tatsache, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, sind wir der festen Überzeugung,

 

- dass mit der geplanten Aufstellung dieser Raketen die Gefahr eines Krieges für das deutsche Volk nicht verringert sondern vergrößert wird,

 

- dass es für uns und unsere Kinder unerträglich ist, künftig mit den atomaren Vernichtungssystemen auch im eigenen Land leben zu müssen,

 

- dass mit dieser angekündigten Maßnahme der bis zu diesem Zeitpunkt für so wertvoll gehaltene schwedische Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa fallengelassen worden ist.

 

Deswegen protestieren wir ganz entschieden gegen die vom Nationalen Verteidigungsrat beschlossene Maßnahme.

 

Wir befinden uns damit in voller Übereinstimmung mit dem Beschluss der Bundessynode der evangelischen Kirchen in der DDR vom 20. September 1983, in dem die Regierung der DDR gebeten wurde, innerhalb des Warschauer Vertrages darauf hinzuwirken, dass keine atomaren Kurzstreckenraketen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden, weder während der noch laufenden Genfer Verhandlungen noch zu einem späteren Zeitpunkt.

 

Wir fordern den Verteidigungsrat der DDR auf, den gefassten Beschluss unverzüglich aufzuheben.

 

Wir bitten alle, die sich nicht mit der immer wahrscheinlicher werdenden Vernichtung des Lebens, hier und anderswo, abfinden wollen, sich diesem Appell anzuschließen und ihn, unterzeichnet, an den Vorsitzenden des Verteidigungsrates der DDR, Erich Honecker, zu schicken.

 

Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir die Entscheidung über Leben und Tod nur den Politikern und Militärs überlassen dürfen.

 

Rostock, den 11. November 1983“[8]

 

Nachdem Lietz im Rahmen der Friedensdekade des Jahres 1983 Unterschriften für den „Rostocker Appell“ gesammelt hatte, erwog das MfS gegen Lietz ein Ermittlungsverfahren mit Haft einzuleiten.[9] Ihm blieb Haft erspart, die Beobachtung von Lietz wurde jedoch verstärkt. Sein Aufsehen erregender und für den Appell werbender Auftritt auf der Synode der mecklenburgischen Landeskirche Mitte November 1983 veranlasste den ihm eigentlich wohlgesonnenen Bischof Rathke, Lietz schriftlich zu einer Aussprache am 5. Dezember 1983 einzuladen. Zwei Tage später, am 7. Dezember 1983 wurde der Appell auch in der Westberliner „tageszeitung“ (taz) abgedruckt.

   

[1] http://widerstandsmuseum.de/ko...

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/...

[3] Vgl. "Zur Friedensdiskussion" " BSTU, MfS, BV FfO " IMB "Walter" (Kapiske), AIM 1446/88 BD.V, Bl. 003.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/...

[5] https://books.google.de/books?...

[6] "Gedächtnisprotokoll" von Heiko Lietz, BStU, MfS, Ast. Rostock BV Rostock AIM 3275/90 Bd. II., Bl. 305.

[7] Volltext des „Rostocker Appells“ auch in: Vorschlag zur Einleitung von strafrechtlichen Maßnahmen gegen die im Operativ-Vorgang „Zersetzer“ bearbeitete Person, 5.12.1983; BStU, MfS, BV Schwerin KD Güstrow 7378 Bd. I, Blatt 157-158.

[8] http://www.ddr89.de/vor/appell...

[9] Vgl. Vorschlag zur Einleitung von strafrechtlichen Maßnahmen gegen die im Operativ-Vorgang „Zersetzer“ bearbeitete Person, 5.12.1983; BStU, MfS, BV Schwerin KD Güstrow 7378 Bd. I, Blatt 155ff.