29. November 1989
Prager Fühling Friedensgebete Dialog Pastoren während der Friedlichen Revolution
Ein Demminer Pfarrer schrieb am 29.11.1989 an den Ratsvorsitzenden des Rates des Kreises Schreiter
„Betr.: Friedensgebet
Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzenderl
Am heutigen Abend haben sich in der evangeliechen St. Bartholomaei-Kirche Christen und Nichtchristen dieser Stadt zum Gebet versammelt und sind anschließend durch die Stadt gegangen, um ihre Anliegen in der Öffentlichkeit kundzutun.
Wir halten es für wichtig, Ihnen mitzuteilen, welche Anliegen uns heute bewegen.
1. Die DDR-Regierung soll sich bei der CSSR-Regierung für ihre militärische Mitbeteiligung bei der Besetzung des Landes 1968 entschuldigen. Das ist nötig, um den Weg für ein neues Miteinander der beiden Länder freizumachen.
2. Die DDR—Regierung soll die Reiseregelung für Bundesbürger in die DDR verändern, den Zwangsumtausch aufheben sowie die Pflicht, wochenlang vor der Einreise einen Antrag dafür bei der VP etellen zu müssen.
3. Die SED muß Ihren Führungsanspruch in den Volksvertretungen und Regierungsorganen aufgeben. Das Volk soll in freien Wahl entscheiden, wer es führen soll.
Die umfassende Präsenz der marxistischen Ideologie im Staatswesen, der Volksbildung und auf allen weiteren Gebieten der Gesellschaft ist zu beenden. Wir haben es satt, dieser Ideologie unser Ohr zu leihen. Sie kann sich nicht länger hinter dem Deckmantel einer sogenannten "wissenschaftlichen Weltanschauung " präsentieren.
4. Auf allen Ebenen der Gesellschaft ist Wirksames zu unternehmen gegen das Stehlen von Volkseigentum, sei es durch Privilegien oder auf direkte Art.
Dem bisher propagierten Wohlstandsdenken ist eine neue Sicht für sinnvolles Leben entgegenzusetzen, die sich wesentlich am Dienst für andere und der menschlichen Gemeinschaft orientiert.
5. Der Resignation vieler Mitbürger ist durch sichtbare Zeichen von Veränderung auch auf Kreisebene entgegenzuwirken. Die alten Lebenslügen, Selbstrechtfertigungsreden und unrealistischen Auflageforderungen an andere von Vertretern der Partei und Staatsorgenen in diesen Tagen bewirken das Gegenteil. Stattdessen muß die ganze Wahrheit über die Vergangenheit und den derzeitigen Zustand an das Lieht der Öffentlichkeit. Halbwahrheiten oder beschönigende Wahrheiten führen uns in das Verderben.
Im Namen der Verantwortlichen
und Beteiligten des Friedensgebetes
grüßt Sie“[1]
[1] Dorothea Herrmann/Christoph Kleemann: Aufbruch '89 in Mecklenburg-Vorpommern, in: Vgl. Heinrichs, Michael/ Lüders, Klaus (Hrsg.): Modernisierung und Freiheit. Beiträge zur Demokratiegeschichte in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1995, S. 839.